Corona-Kurswechsel in Baden-Württemberg? Monatelang gehörte das Land zu den Bremsern bei den Lockerungen. Noch vor Ostern hatte Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne) vor den Folgen verfrühter Öffnungen gewarnt – ein kurzer Moment des Öffnens und der Euphorie sein nicht mehr als ein Strohfeuer, das man am Ende mit einer langen Zeit harter Einschränkungen werde bezahlen müssen, sagte Kretschmann vor sechs Wochen.

Sogar die Innengastronomie ist eingeschränkt möglich

Doch nun prescht ausgerechnet Baden-Württemberg vor und lockert die Corona-Verordnung schneller und weiter, als es andernorts zulässig ist. So können in einigen Städten und Regionen, in denen die Inzidenz unter 100 liegt und somit die Bundesnotbremse nicht mehr greift, von diesem Samstag an in der ersten von drei Lockerungsstufen nicht nur Biergärten und andere Außengastronomie wieder öffnen.

Auch Innengastronomie ist eingeschränkt wieder möglich. Und erstmals seit Monaten können wieder Kulturveranstaltungen im Freien stattfinden. Basis dafür ist das Stufenkonzept mit den Eckpunkten für „kontrollierte und sichere Öffnungsschritte“.

„Die härtesten Regeln, was die Testpflicht angeht“

„Das ist kein Kurswechsel, sondern die Konsequenz eines monatelangen Lockdowns“, erläutert Uwe Lahl, der seit Ende März als Interims-Amtschef im Sozialministerium fungiert und damit der wichtigste Corona-Krisenmanager des Landes hinter den Kulissen ist. Dem Konzept vorausgegangen waren in den vergangenen Wochen mehrere Runden mit allen Beteiligten unter Lahls Regie.

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„Es gibt klare Regeln, und das Ganze ist kein Schnellschuss, sondern das Ergebnis eines intensiven Dialogs und der Abwägung der verschiedenen Interessen“, so Lahl. „Was zum Beispiel die Innengastronomie betrifft, sind wir ja gerade einmal drei Tage schneller als andere Bundesländer. Aber wir haben die härtesten Regeln, was die Testpflicht angeht. Die Inzidenz muss fünf Tage in Folge unter 100 liegen und dabei auch noch eine fallende Tendenz aufweisen. Und die Drei-Stufen-Regel ist mit größter Vorsicht genäht“, erläutert der Krisenmanager.

Der Hotel- und Gaststättenverband Dehoga fürchtet allerdings, dass die Bedingungen für die Öffnung Gastronomen und Hoteliers in der Praxis vor enorme Herausforderungen stellen – schließlich müssen sie sicherstellen, dass nur getestete, geimpfte oder genesene Gäste bedient werden.

Eine Sache ist aus Sicht des Gastgewerbes inakzeptabel

Dennoch sei die Öffnung trotz der kurzen Vorlaufzeit eine sehr gute Nachricht für Branche, sagt der Landesvorsitzende Fritz Engelhardt. Inakzeptabel sei aus Sicht des Gastgewerbes allerdings, dass bei einer Inzidenz über 100 wieder die Bundesnotbremse greife und die Öffnungen kurzfristig rückgängig gemacht werden müssten, sollte der Inzidenzwert an drei Tagen nacheinander wieder steigen. Dennoch handele es sich jetzt um eine Riesenchance, so Engelhardt, „Baden-Württemberg nimmt eine Vorreiterrolle ein, die im ganzen Bundesgebiet aufmerksam beachtet wird. Es kommt jetzt auf die Gastgeber an, die Betriebe sicher und verantwortungsvoll zu öffnen.“

Lucha appelliert: „Nicht gefährden, was wir erreicht haben“

Im Sozialministerium setzt man darauf – obwohl man um den enormen bürokratischen Aufwand für die Branche weiß. „Ich habe volles Vertrauen, dass das eingehalten wird“, sagt Amtschef Lahl. „Die Wirtschaft weiß, was die Stunde geschlagen hat. Damit es nicht zu einer vierten Welle kommt, muss jetzt jeder auf diese Dinge achten.“

Sozialminister Manfred Lucha schiebt noch einen dringenden Appell hinterher, mit den neu gewonnenen Freiheiten sorgsam, umzugehen. „Die ersten Städte und Landkreise können bereits am Samstag vorsichtig öffnen. Das ist ein gutes Zeichen, die Richtung stimmt. Doch auch wenn das Infektionsgeschehen abnimmt, sollten wir auf keinen Fall gefährden, was wir bis jetzt erreicht haben“, appelliert der Grünen-Politiker.

Dazu gehöre, möglichst nicht sofort für größere Tagesausflüge in Regionen zu fahren, in denen Öffnungen schon möglich sind. Der Blick des Ministers richtet sich dabei vor allem auf die touristisch attraktiven Regionen am Bodensee und im Schwarzwald.