Die Spannung war groß, eigentlich erwartete man am Mittwoch im Stammheimer Hochsicherheitsgericht ein wichtiges Urteil: Jenes zur Singener Messerattacke, bei der drei Männer schwer, in einem Fall sogar lebensgefährlich verletzt wurden. Es sollte am Ende des Tages jedoch nicht fallen – dafür wurden andere Fragen diskutiert.

Wortgewaltig eröffnete der langjährige Konstanzer Theaterintendant Christoph Nix die verbleibenden Verteidigerplädoyers. „Als ich das Video (der Messerattacke, Anm.) zum allerersten Mal gesehen habe, habe ich mir gedacht: ‚Oh mein Gott, am helllichten Tag. Haben die den Krieg mitgebracht? Haben die nichts gelernt? Dass eine Zivilgesellschaft anders mit Konflikten umgeht?‘ Da entdeckte ich auch mein eigenes Vorurteil, meine eigene Angst“, sagte Nix.

Die Attacke im Video Video: Privat/SÜDKURIER

Er tauchte in seinem Plädoyer nochmals in die Lebensgeschichte seines Mandanten Samir A. ein, der als mutmaßlicher Haupttäter der Singener Messerattacke gilt und wie seine sieben angeklagten Brüder und Cousins in Syrien am Strom Euphrat an der Grenze zum Irak geboren wurde, wo er Bäcker und Lkw-Fahrer gewesen sei. Der 34-Jährige wäre nie aus seiner Heimat geflohen, wenn es dort nicht Krieg gegeben hätte, sagte sein Verteidiger. Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) sei in seine Heimatstadt eingefallen, habe zwei seiner insgesamt 24 Brüder getötet, ein dritter sei seit dem Jahr 2012 in einem syrischen Gefängnis verschollen.

Kritik an Haftbedingungen in Waldshut

Samir A. sei kein brutaler Mensch, sagte Nix, sondern ein Vater, der sich weit über seine Kultur hinaus um seine Kinder kümmere. Bis auf ein Verkehrsdelikt (fahrlässige Körperverletzung in drei Fällen, Anm.) habe er vorher nie eine Straftat begangen, als erster ein Geständnis (Teilgeständnis, Anm.) abgegeben und auf die jüngeren Verwandten eingewirkt, mit den Angriffen gegen die drei Opfer aufzuhören. „Und sie hörten auf“, so Nix.

Der mutmaßliche Haupttäter der Singener Messerattacke, Samir A., verbirgt sein Gesicht hinter einer Plastiktüte.
Der mutmaßliche Haupttäter der Singener Messerattacke, Samir A., verbirgt sein Gesicht hinter einer Plastiktüte. | Bild: DPA/Bernd Weißbrod

Der Verteidiger kritisierte auch die Bedingungen der zehnmonatigen Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Waldshut-Tiengen, wo sein Mandant Samir A. 23 Stunden am Tag ohne ein arabisches Buch oder Vergleichbarem in eine Zelle eingesperrt gewesen sei. Aus all diesen und weiteren Gründen beantragte Nix „eine Freiheitsstrafe zu verhängen, die es dem Gericht ermöglicht, sie zur Bewährung auszusetzen“.

Konflikt um dauerhafte Entstellung

Außerdem stellte der Konstanzer Anwalt – wie zahlreiche seiner Verteidigerkollegen im Gerichtssaal – in Frage, ob die Narben im Gesicht des Hauptopfers Mizr A. von Dauer sein müssen. Die derzeitige Entstellung könne ja mit plastischer Chirurgie behandelt werden. Gelänge dies tatsächlich, würde es sich nicht mehr um schwere, sondern nur noch um gefährliche Körperverletzung handeln. Auf beide Tatbestände stehen zwar maximal zehn Jahre Freiheitsstrafe. Absichtliche und wissentliche schwere Körperverletzung wird jedoch mit mindestens drei Jahren Haft bestraft.

Christoph Nix aus Konstanz ist Strafverteidiger, Schriftsteller und Intendant der Tiroler Festspiele.
Christoph Nix aus Konstanz ist Strafverteidiger, Schriftsteller und Intendant der Tiroler Festspiele. | Bild: Scherrer, Aurelia

Vor diesem Hintergrund beantragten Nix und sein Kollege Sylvester Kraemer, dass ein Sachverständiger ein Gutachten erstellt über die Frage, ob die Narben im Gesicht des Hauptopfers Mizr A. eine dauerhafte Entstellung darstellen oder mit einem operativen Eingriff entfernt werden können. Mizr A. hatte ausgesagt, er fühle sich durch die Narben im Gesicht entstellt.

„Das ist falsch“

Oberstaatsanwalt Ulrich Gerlach ließ es sich nicht nehmen, nochmal Stellung zu beziehen: „Der Beweisantrag geht von der falschen rechtlichen Voraussetzung aus, dass es dann keine dauerhafte Entstellung wäre, wenn der Geschädigte diese mithilfe eines Schönheitschirurgen entfernen würde – das ist falsch“, sagte der Konstanzer. Dem Bundesgerichtshof habe es in einem ähnlichen Fall genügt, als das Opfer es ablehnte, sich die Entstellung chirurgisch entfernen zu lassen. Man habe hier „eine dauerhafte Entstellung“, stellte Staatsanwalt Gerlach klar.

Ulrich Gerlach, Oberstaatsanwalt in Konstanz.
Ulrich Gerlach, Oberstaatsanwalt in Konstanz. | Bild: René Laglstorfer

„Genug Gefängnis verbüßt“

Sylvester Kraemer, zweiter von insgesamt drei Verteidigern des mutmaßlichen Haupttäters Samir A., erinnerte die Singener Messerattacke an das weltberühmte Musical „West Side Story“, wie er in seinem Schlussplädoyer erklärte: „Zwei Gruppen, die verfeindet sind und Animositäten haben, die eskalieren und zu zwei Toten führen“, wozu es in Singen glücklicherweise nicht gekommen war.

Immer wieder zweifelten die 15 Verteidiger am Tatvorsatz, an der Tötungsabsicht ihrer Mandanten und an der Aussagekraft des von der Polizei sichergestellten Chatverlaufs der Angeklagten. Alle Verteidiger plädierten am Ende auf Bewährungsstrafen für ihre Mandanten, die zum Teil weit unter jenem Strafmaß liegen, die Oberstaatsanwalt Gerlach beantragt hatte.

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Die Gelegenheit, das „letzte Wort“, das jedem Angeklagten zusteht, nach den 15 Schlussplädoyers ihrer Verteidiger zu ergreifen, nahmen die acht Syrer nicht wahr. Ein Urteil wollte der Konstanzer Richter Joachim Dospil an diesem Tag nicht mehr fällen. „Wir wollen das nicht überstürzen“, sagte er gegen 15.30 Uhr. Hintergrund ist, dass die Verteidiger planen, die Urteile anzufechten. Da könnte sich eine zu rasche Urteilsverkündung in den nächsten Instanzen negativ auswirken.

Blick in den Sitzungssaal des Oberlandesgerichts Stuttgart-Stammheim.
Blick in den Sitzungssaal des Oberlandesgerichts Stuttgart-Stammheim. | Bild: Freißmann, Stephan

Aus diesem Grund bleibt es bis Montag, 11 Uhr, weiter spannend im Prozess um die Singener Messerattacke. Den acht Angeklagten drohen Haftstrafen zwischen zweieinhalb Jahren und vier Jahren und neun Monaten.