Viele kennen Sie von Ihrer Arbeitsstelle bei Elektro Volz als stets anwesende, allwissende, ruhige und souveräne Mitarbeiterin. Plötzlich waren Sie weg.
Ja, es gab einen Zeitpunkt nach zwei Todesfällen, da habe ich gemerkt, dass ich keine Leistung mehr erbringen kann. Ich konnte mich kaum noch konzentrieren, habe aber nicht gemerkt, dass ich krank bin. Eines Tages war plötzlich die Stimme weg, kurz darauf wurde eine schwere Lungenentzündung diagnostiziert. Ich hätte mich sechs Wochen auskurieren sollen, aber ich habe nach dreieinhalb Wochen wieder gearbeitet, weil mir das Arbeiten leichter gefallen ist, als zuhause zu sitzen.
Das ging aber nicht lange gut.
Nein, ich habe von Woche zu Woche gemerkt, dass ich immer mehr an meine Grenzen komme. Das ging so weit, dass ich mir eine Vier-Tage-Woche bis zu meinen Hauptferien organisieren wollte. Dann hatte ich einen Rückfall, die Lungenentzündung war wieder ausgebrochen. Bis sie ausgeheilt war, hatte die Ärztin mir eine Depression diagnostiziert. Für mich war es nur fehlende Leistungsfähigkeit, Schwäche. Die Ärztin hat gesagt, ich bräuchte eine längere Auszeit. Schon seit dem Tod meiner Schwägerin war ich in ambulanter Therapie und hatte eine Rehabilitationstherapie beantragt.
Das funktionierte nicht auf Anhieb.
Nein, es gab eine Ablehnung und der Widerspruch hätte ein halbes Jahr in Anspruch genommen. Alternativ habe ich eine Einweisung in eine Akut-Klinik beantragt und nach vier Wochen bei der Krankenkasse weinend nachgefragt, wann diese endlich genehmigt wird. Zu dem Zeitpunkt habe ich selbst mal geglaubt, dass ich unter Depressionen leide, denn ich habe mir keine Gedanken mehr gemacht, wer meine Wohnung und meine Blumen in meiner Abwesenheit pflegt.
Hat Ihnen die Therapie etwas gebracht?
Ich hatte super Therapeuten. Die schwierigste Aufgabe war, als mir gesagt wurde: „Sie haben morgen frei. Nutzen Sie den Tag und machen Sie nur Dinge, die Ihnen Spaß machen.“ Ich bin nur dagehockt und hab mir überlegt, ah, da habe ich doch Zeit für das Geschenk für Klaus – das war aber nicht erlaubt! Das war für mich der schlimmste Tag in der Reha. Ich sollte mir etwas Gutes tun!
Was haben Sie dann unternommen?
Ich bin weggefahren, habe zu Mittag gegessen, bin in den Stadtgarten mit meiner Mundharmonika. Ich habe gemerkt, wie schwer es ist, einfach nur etwas aus Lust und Laune für mich zu tun, und was ich für ein riesen Lernpotential habe. Es hat sich durch mein ganzes Leben gezogen, dass andere mir mehr zugetraut haben, als ich mir selbst. Ich habe immer funktioniert und für andere etwas gemacht, war mir aber nicht bewusst, was in mir steckt. Ich war eher überrascht, wenn mich jemand gelobt hat für etwas, was für mich ganz normal war.
Woher rührte das?
In meiner Familie war es normal, gut zu sein und sein Bestes zu geben. „It g'schimpft isch g'nug g'lobt“, das galt auch bei uns. Später habe ich gemerkt, ich werde respektiert, meine Leistung wird anerkannt; von den anderen mehr, von mir weniger. Es war für mich normal, nichts Besonderes oder Überdurchschnittliches.
In der anschließenden Reha wurden sie stabilisiert. Was hat Ihnen da geholfen?
Zunächst dachte ich ja, nach der Akuttherapie bin ich generalüberholt, doch schnell war ich froh über die anschließende Reha, weil der alte Zustand sonst wieder von vorn begonnen hätte. In der siebenwöchigen Reha wurde Wert auf viel Sport, gutes Schlafen und Vermeidung von Mischsituationen gelegt. Denn stete Mischsituationen, wie bei der Arbeit mit Telefon, Kundengesprächen und PC-Arbeit, können Depressionen auslösen. Fünf Wochen hatte ich eine Therapeutin, die mehr das Ziel, mich schnellstmöglich wieder in Arbeit zu bringen, als meine Bedürfnisse sah. Für mich war aber klar, ich muss was anderes machen. Bei der Agentur für Arbeit hatte ich Glück. Eine Beraterin für schwierige Fälle empfahl mir, zum Arzt zu gehen, weil sie sah, dass ich noch nicht wieder arbeitsfähig war, obwohl ich das dachte. Ich hatte mich mal wieder selbst überschätzt.
Was war Ihre Chance?
Der ambulante Therapeut. Er sagte, probieren Sie sich aus, aber achten Sie dabei auf Ihre Grenzen: Nur Fallschirmspringen und Tiefseetauchen verbot er mir. Dann habe ich mir meinen weiteren beruflichen Weg überlegt, ausprobiert, ob mir die Arbeit mit Behinderten liegt. Das war spannend in Verbindung mit Musik, aber ich habe schnell gemerkt, dass ich dafür keine Geduld habe. Anschließend habe ich ein Jahr bei der Lernbegleitung für Flüchtlinge mitgearbeitet. Ich habe es total genossen, dass es mir ermöglicht wurde, eine Entdeckungsreise zu mir zu machen, um meine Möglichkeiten und Grenzen auszuloten, obwohl ich krankgeschrieben und nicht in der Lage war, einen normalen Arbeitsplatz auszufüllen.
Andere Depressive igeln sich ein.
Das war nicht meins. Ich habe schon nach dem Tod meines Mannes gelernt, dass ich etwas für Körper, Geist und Seele tun muss, und mit dem Bauchtanz begonnen. Danach habe ich Mundharmonikaspielen gelernt und mich einer kleinen Musikergruppe angeschlossen. 2017 habe ich mir einen Jugendtraum erfüllt und begonnen, Klarinette zu lernen. Ein ganz großer Einschnitt war 2017 die Einführung ins christliche Handauflegen. Das Jahrestraining habe ich mit einer Schweigewoche mit Kontemplation abgeschlossen. Seither besuche ich regelmäßig Übungsabende und Vertiefungstage. Ich habe den Wert von Ruhe und Stille, das innerliche Erforschen schätzengelernt und schaue, dass ich das in den Tag einbaue.
Das alles hat Ihnen neue Themenfelder und Aktivitäten erschlossen.
Stimmt. Ich habe mit dem Betongießen begonnen, bin viel gereist, besonders auf Pilgerwegen, abseits des Touristenstroms mit Blick hinter die Kulissen. Dadurch bin ich ein ziemlich politischer Mensch geworden, vor allem durch Informationen aus Internetportalen, auf denen ich mich auch engagiere. Seitdem ich auf mich achte, bin ich mir sehr der Verantwortung bewusst geworden, die jeder einzelne für die Welt hat. Vorher habe ich nur funktioniert für meine Umgebung. Auch für meinen Vorteil, vor allem den finanziellen. Heute habe ich weniger Geld, aber ich schaue mehr auf meine Seele und wenn ich besser für mich sorge, kann ich das auch besser für andere tun.
Sie überraschen mit einer ungewöhnlichen Aussage.
Für mich war die Depression ein Geschenk, aus mir ist ein anderer Mensch geworden. Ich achte darauf, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft zu sein, sondern im Hier und Jetzt zu schauen, was für meine Seele wichtig ist. Dadurch bin ich offener, neugieriger, entspannter. Ich kann die anderen nehmen, wie sie sind, ohne dass es mir schadet oder mich verletzt. Ich bin einfach präsenter. Und ich bin in der Lage, anderen Grenzen zu setzen, bevor ich mich selbst überfordere mit dem Anspruch, für andere da zu sein. Jetzt habe ich einen gesunden Egoismus, den ich jedem anderen auch wünsche.
Ihr Änderungsprozess ist noch nicht abgeschlossen?
2018 habe ich in Ausbildung und Reisen investiert, jetzt möchte ich mich sortieren und frage mich: Wovon will ich künftig leben? Seit 2017 arbeite ich Teilzeit. Musik nimmt jetzt einen großen Raum ein. Handauflegen ist ein wichtiger Teil. Entwickle ich daraus etwas oder mache ich etwas ganz anderes? Mit meinem neuen Gottvertrauen gehe ich davon aus, das Wichtige wird auf mich zukommen, wenn ich weiterhin zuversichtlich und mit offenen Augen durch mein Leben gehe.
Zur Person
Margit Baumgartner, 59, ist in Ahausen geboren und aufgewachsen. Nach ihrer Ausbildung zur Bäckereiverkäuferin arbeitete sie rund acht Jahre in ihrem Beruf, anschließend im Lebensmittelbereich, bildete sich zur Betriebsassistentin des Handwerks weiter und war 27 Jahre bei Elektro Volz in Bermatingen. Sie kündigte 2016 infolge ihres gesundheitlichen Zusammenbruchs im Mai 2015. Seit Januar 2017 arbeitet sie in einem kleineren Betrieb in Teilzeit. Margit Baumgartner wohnt seit 1996 in Untersiggingen und ist verwitwet. Ihre Hobbys sind Musik machen, Sport im "Gerätestudio" in Untersiggingen, Nordic Walking, wandern und schwimmen.