Nachdem der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe das Ravensburger Urteil von 2018 gegen den sogenannten Babybrei-Erpresser – es lautete auf 12 Jahre sechs Monate Freiheitsstrafe – in Teilen abgeändert hat, steht der 55-jährige nun Mann erneut vor dem Landgericht Ravensburg. Am gestrigen Verhandlungstag ging es um die Fußfesseln, das Leben im Gefängnis und die erneut fehlende Verteidigerin Ricarda Lang (München). Gleich zu Beginn der nur anderthalbstündigen Verhandlung betonte Richter Franz Bernhard aber auch: „Das Einzige ist, die Höhe der Strafe neu festzulegen.“
Das Interesse am Angeklagten und seinem Ziel, 11,75 Millionen Euro zu erpressen, war anfangs riesig – der Fall ging bundesweit durch die Medien. Gestern tendierte es gegen Null. Corona-bedingt sitzen drei Journalisten getrennt an komfortablen Tischchen. Zwei Zuhörer verlieren sich im Gerichtssaal, während alle Beteiligten am Prozess hinter Plexiglas agieren.
Richter lehnt Antrag ab
Der Angeklagte im leuchtend blauen Pulli trägt weder Maske noch Handschuhe, der Justizbeamte als Bewacher dagegen schon. In einem gepflegt vorgetragenen Antrag verlangt der Mann nach der Verlesung seiner zahlreichen Vorstrafen die Abnahme der Fußfesseln, die gegen das Grundgesetz und andere höchstrichterlichen Bestimmungen verstießen, wie er sagt. Richter Bernhard wirkt nicht sonderlich beeindruckt, lehnt den Antrag nach einer Pause ab und belehrt den hageren Mann später einmal: „Was ins Gerichtsprotokoll kommt, bestimmen wir und nicht Sie.“
„Was ins Gerichtsprotokoll kommt, bestimmen wir und nicht Sie.“Richter Franz Bernhard
Ein weiterer Antrag richtet sich gegen den Pflichtverteidiger Gerd Pokrop aus Friedrichshafen. Der sei nicht in der Lage ihn zu verteidigen, habe auch nie mit ihm gesprochen und vertrete nicht seine Interessen. Auch dieser Antrag wird abgelehnt. Bleibt gleichwohl die Frage, wo die mit einiger Spannung erwartete Strafverteidigerin Ricarda Lang aus München bleibt. Am ersten Prozesstag fehlte sie krankheitsbedingt, hieß es, jetzt soll sie mit einigen Terminen nicht einverstanden gewesen sein. Klären lässt sich das nicht. Lang lässt zwei telefonische Anfragen des SÜDKURIER unbeantwortet.
„Suizidale Handlungen“
Dafür spricht der psychiatrische Sachverständige Hermann Assfalg über die inzwischen über zweijährige Haftzeit des Angeklagten, mit der sich der Mann „mit dieser narzisstischen Persönlichkeitsstörung besonders schwer tut“. Von mehrfachen „suizidalen Handlungen“ berichtet Assfalg dem Gericht. Dreimal sei der Mann ins Gefängniskrankenhaus Hohenasperg verbracht worden. Essen und Trinken habe er zeitweise verweigert. Und besonders belastend sei gewesen, als er in einer kameraüberwachten Zelle untergebracht war. Der Angeklagte hört mit gesenktem Kopf zu, wirkt fast geistesabwesend, kündigt aber danach weitere Anträge für den nächsten Prozesstag in einer Woche an.
Die Verhandlung wird am Freitag, 29. Mai, um 13.30 Uhr fortgesetzt.

Rückschau auf einen „heftigen Fall“
Der 16. September 2017 ist ein Samstag. Zwischen 16.38 und 19.02 Uhr verteilt der später als „Babybrei-Erpresser“ bekannte Mann fünf Gläser auf fünf Lebensmittel- und Drogeriemärkte in Friedrichshafen. In die Gläser hatte er jeweils zwischen 41 und 50 Milliliter reines Ethylenglykol eingebracht. Für Säuglinge und Kleinkinder wäre das eine tödliche Dosis gewesen. Das als Frostschutzmittel bekannte Ethylenglykol hatte sich der Mann im Internet bestellt.
Um 19.02 Uhr verschickte der 53-Jährige Mann über einen E-Mail-Account eine E-Mail an das Bundeskriminalamt, eine Verbraucherschutzorganisation und sechs Einzelhandelskonzerne mit dem Hinweis auf die in fünf Märkte in Friedrichshafen verteilten Gläser und forderte die Zahlung von Bargeld in Höhe von 11,75 Millionen Euro mit detaillierten Angaben zur Geldübergabe. Sollte seine Forderung erfüllt werden, werde niemand zu Schaden kommen. Er droht aber zugleich weitere vergiftete Produkte an.
„Es war der heftigste Fall in meiner Polizeiarbeit.“Uwe Stürmer
Am Sonntag, 17. September, dem darauffolgenden Montag und Dienstag werden alle fünf vergifteten Gläschen gefunden. Bereits Stunden nach Eingang der Erpresser-Mail beginnt die Sonderkommission „Apfel“ der Polizei mit ihren Ermittlungen. Der heutige Polizeichef von Ravensburg, Uwe Stürmer, erinnert sich: „Es war der heftigste Fall in meiner Polizeiarbeit.“ Bis zu 220 Beamte waren 16 Tage im Dauereinsatz. Der Fall bekam bundesweite Schlagzeilen, denn „völlig unschuldige Kinder hätten Opfer werden können“, wie Stürmer damals sagte.
Zur Geldübergabe kommt es nicht. Stattdessen wird der mehrfach Vorbestrafte nach der Veröffentlichung von Überwachungskameras in zwei Märkten und Hunderten von Hinweisen in der Nähe von Tübingen von einem SEK-Kommando festgenommen, als er mit seinem Hund spazieren geht. Der Mann legt wenig später ein Geständnis ab.
Am 22. Oktober 2018 wird der Babybrei-Erpresser, der einige Zeit in Konstanz lebte, nach sechs Tagen Verhandlung vom Landgericht Ravensburg wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchter schwerer räuberischer Erpressung mit Todesfolge zu zwölf Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Der psychiatrische Sachverständige stellt beim Erpresser eine „dissoziale Persönlichkeitsstörung“ fest.
Mit Beschluss vom 5. Juni 2019 ändert der fünfköpfige 1. Strafsenat des Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe das Ravensburger Urteil dahingehend ab, dass der Angeklagte der versuchten besonders schweren räuberischen Erpressung schuldig sei, weil er „wirksam vom Versuch des Mordes und vom Versuch der Todesfolge beim versuchten Erpressungsdelikt zurückgetreten ist“. Dazu gab es keine Kommentare aus Ravensburg.