Diese Erinnerung wird ihn sein Leben lang begleiten. „Sie können sich dieses Gefühl nicht vorstellen. Man holt Luft, ohne welche zu kriegen. Wie kurz vor dem Ertrinken.“ So beschreibt Walter Brummel den ersten Moment, als er sich nach wochenlangem Liegen aufsetzen und selbst atmen muss, ohne dass ihn eine Maschine mit Sauerstoff versorgt.

Wie ein Sack Sülze habe er auf der Bettkante gehangen, gestützt von Intensivpflegern, die ihm gut zusprachen. Das Zwerchfell versagte seinen Dienst, noch. „Ich wollte sagen: Lasst mich liegen, ich will lieber sterben.“ Stattdessen wurde er fortan immer öfter in die Sitzposition gehievt. „Das war das Allerschlimmste. Jeden Tag mehrfach ertrinken.“
„Das war das Allerschlimmste. Jeden Tag mehrfach ertrinken.“Walter Brummel aus Friedrichshafen
Dabei rettete ihm die High-Tech-Behandlung das Leben. Über Wochen floss sein ganzes Blut wieder und wieder über eine fast fingerdicke Kanüle aus dem Körper, drei bis fünf Liter pro Minute. Die Maschine reichert das Blut mit Sauerstoff an, bevor es zurück gepumpt wird. Ohne diese künstliche Lunge, die Ecmo, hätten viele Corona-Patienten nicht überlebt. Auch Walter Brummel nicht.

Quarantäne im Krankenhaus
Am 5. Dezember 2020 kommt der damals 56-Jährige mit einem Hörsturz ins Klinikum Tettnang. Der Coronatest: negativ. Sechs Tage später jedoch ist er positiv. Noch nie in 40 Jahren Berufsleben habe er sich mitten im Weihnachtsgeschäft krankgemeldet. Diesmal mussten die Mitarbeiter im Marktkauf auf ihren Chef verzichten, den Laden selber schmeißen. „Ich dachte, dann reißt du eben die Quarantäne im Krankenhaus runter und gehst heim.“ Raus durfte er sowieso nicht. Für die Tettnanger Klinik war ein Lockdown samt Aufnahmestopp verhängt worden, weil die Zahl der Infizierten nach einem Corona-Ausbruch schnell anstieg. Doch dann kam der Husten, das Fieber, und mit jedem Tag ging es Walter Brummel schlechter.

Dass seine Lunge zu versagen droht, stellten die Ärzte einen Tag vor Heiligabend nach dem Röntgen fest. Nur wenige Stunden später flog ihn der Rettungshubschrauber in die Uniklinik Tübingen. „Ansonsten wäre ich gestorben, hat man mir gesagt“, erzählt Walter Brummel. Lungenembolie, Vorhofflimmern im Herzen, Blut im Urin waren einige der üblen Vorboten. Ob er durchkommt, stand tagelang auf der Kippe. Dreieinhalb Wochen kämpfte sein Körper an der Lungenmaschine gegen das Virus. Die meiste Zeit davon lag er im Koma.

Als Walter Brummel – immer noch intubiert – langsam wach wird, hat er unsagbaren Durst, keine Kraft und kein Zeitgefühl mehr. „Ich dachte, ich träume. Das war alles nicht real.“ Anfangs hing er noch an der Ecmo, nahm seine Umwelt „wie durch eine Taucherbrille“ wahr. Auch die Fotos seiner Familie, die die Pfleger übers Bett gepinnt hatten.
„Ich bin kein Gefühlsmensch. Aber ich hätte Rotz und Wasser heulen können.“Walter Brummel nach dem ersten Telefonat mit seiner Frau nach dem Koma

Zurück aus dem Koma, drückten sie ihm das Telefon ans Ohr. Sprechen konnte er nicht, aber seine Frau hören, seine beiden Kinder, acht und 14 Jahre alt. „Ich bin kein Gefühlsmensch. Aber ich hätte Rotz und Wasser heulen können“, erzählt Walter Brummel. Erst nach und nach habe er verstanden, was seine Familie mitten in der Weihnachtszeit und in den Wochen danach durchgestanden hat. „Bei jedem Telefonanruf mussten sie damit rechnen, dass die Todesnachricht kommt.“
3397 Corona-Patienten wurden während der ersten Pandemiewelle in Deutschland von März 2020 bis Ende Mai 2021 mit einer Ecmo behandelt, zeigen Abrechnungsdaten der Krankenhäuser. Nach Angaben des Ärzteblatts verstarben laut einer Analyse 68 Prozent dieser Patienten.
Dass er knapp ein Jahr später sogar wieder in seinem alten Job arbeiten kann, grenze für seinen behandelnden Arzt in Tübingen fast an ein Wunder, erzählt Walter Brummel. „Ich sei einer von ganz Wenigen, die nach der Ecmo noch gerade gehen können.“ Doch der Weg dahin war schwer und schmerzhaft. Nicht nur atmen musste er neu lernen, sondern auch sprechen, schreiben oder laufen. 20 Kilo Muskelmasse gingen im Krankenbett verloren. Dazu die psychische Belastung, wenn ein Patient im Leichensack aus dem Zimmer geschoben wird.

Bis Ende Januar wird er in der Uniklinik versorgt, bis er relativ stabil, so Brummel, auf die Intensivstation ins Krankenhaus nach Friedrichshafen kommt. „Die haben am UKT das Bett gebraucht.“ Es dauert weitere zwei Wochen, bis der 56-Jährige auf den Rollator gestützt erstmals wieder auf den eigenen Füßen steht, die ersten Schritte wagt. „Da dachte ich noch, dass ich nie mehr arbeiten kann.“ In der Reha-Klinik Allensbach kehrt die Kraft langsam zurück. Erst nach vier Monaten darf ihn seine Frau zum ersten Mal seit dem Hörsturz in den Arm nehmen. Im August 2021, acht Monate nach der Infektion, folgt die zweite Reha an der Nordsee. „95 Prozent der Patienten in der Klinik hatten Long Covid. Ich war der einzige Intensivpatient.“

Walter Brummel geht es heute wieder relativ gut. Kurz vor Weinachten 2021, fast exakt ein Jahr nach der Infektion, ist er wieder arbeitsfähig. Heute steht der Marktleiter mitten im Leben, bewältigt den oft stressigen Berufsalltag. Doch Corona hat hässliche Spuren hinterlassen. Narben im Gesicht zeigen, wo er sich wundgelegen hat. Lunge und Herz sind geschädigt. In Händen und Füßen kribbelt es oft, Gedächtnis und Konzentration lassen ihn manchmal im Stich. Aber er lebt und liebt.
Anmerkung der Redaktion: Die Bilder von Walter Brummel auf der Intensivstation der Uniklinik Tübingen entstanden im Rahmen einer Dokumentation des Fotografen Tobias Wuntke. Pfleger am UKT wollten den Kampf gegen das Virus hinter den sonst verschlossenen Türen zeigen.