„Alles Terroristen. Müssen alle getötet werden.“ Mit diesen Worten betritt ein Mann am 4. April das Zimmer seiner Mitbewohner in einer Wohngemeinschaft in der Maybachstraße in Friedrichshafen. Dann geht der heute 62-Jährige mit einem Küchenmesser in der Hand auf den Mann des Ehepaars, das in dem Zimmer wohnt, los. Verletzt wird an dem Abend niemand. Die beiden drücken den Angreifer rechtzeitig aus der Tür und schließen das Zimmer ab, bis die Polizei eintrifft. So heißt es in der Anklage, die am Mittwoch, 25. September, vor dem Landgericht Ravensburg verlesen wird. Der Vorwurf: versuchter Totschlag.

Angeklagter streitet teilweise ab

„Er hat so mit dem Messer gewedelt, dass man nicht an ihn kam“, berichtet die als Zeugin geladene Ehefrau. Sie sagt, sie habe vom Bett aus gesehen, wie ihr Mann den Angeklagten mithilfe der Tür wieder aus dem Zimmer drücken konnte. Sie selbst bleibt aus Schock wie versteinert. Wie die Zeugin sagt, kam der Angeklagte schon zuvor einmal unvermittelt in ihr Zimmer und habe sich einfach auf das Bett gesetzt. Die beiden erkundigten sich laut der Ehefrau zuvor schon beim Vermieter und dessen Frau, ob sie das Zimmer kündigen könnten, wenn sie eine neue Wohnung finden würden.

Dass er mit einem Messer in der Hand die Tür seiner Mitbewohner geöffnet hat, bestätigt der Angeklagte selbst. Er sagt, er hat schon in den Tagen zuvor Stimmen in der Wohnung wahrgenommen, konnte aber nur das Wort „Eliminieren“ verstehen und hatte Angst um sein Leben. Auch am 4. April hört er wieder etwas. „Ich dachte, die Stimmen kommen aus dem Zimmer, in dem sie wohnen. Ich habe dann meinen Mut zusammengenommen und bin schauen gegangen, was los ist.“ Der 62-Jährige streitet aber vor Gericht ab, dass er rumgeschrien und auf seinen Mitbewohner einzustechen versucht hat. Er betont, nach dem Öffnen der Tür habe er Panik bekommen und sei in sein Zimmer zurückgegangen.

In einer Wohngemeinschaft in der Maybachstraße kommt es am 4. April 2024 zum Vorfall. Ein 62-jähriger Bewohner soll laut Anklage mit ...
In einer Wohngemeinschaft in der Maybachstraße kommt es am 4. April 2024 zum Vorfall. Ein 62-jähriger Bewohner soll laut Anklage mit einem Küchenmesser auf seine Mitbewohner losgegangen sein. | Bild: Daniel Vedder

Verfolgungsangst eskaliert im Frühjahr

Bei der Verhandlung wird schnell deutlich, dass diese drohenden Stimmen, die der Angeklagte gehört hat, nicht echt sind. Sie sind Symptome von Verfolgungsideen, die er schon in den Jahren zuvor entwickelt hat. Er berichtet auch davon, dass er Menschen gesehen hat. „Es ist immer spätnachts und ich sehe nur Gestalten in der Ferne“, sagt der Angeklagte. Diese hätten dann Gewehre in der Hand gehalten. Vor Gericht berichtet der Angeklagte dann aber auch von einem Vorfall, bei dem er gesehen haben will, wie ein Unbekannter in die Wohnung kam und eine tote Frau auf dem Sofa abgelegt habe. Diese sei dann plötzlich verschwunden.

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Auch die Polizei zieht er mehrmals hinzu – diese findet aber nichts. Laut Polizeivermerk, den Richter Veiko Böhm bei der Verhandlung verliest, gehen auch am 2. und 3. April Anrufe vom Angeklagten über den Notruf ein. Er erzählt von Menschen, die in seine Wohnung kommen und ihn drangsalieren, gar durch Wände laufen würden.

Heute beteuert der 62-Jährige, dass er versteht, dass die Stimmen und Menschen nicht echt waren. Seit dem Abend im April ist er im Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg Weissenau in Ravensburg untergebracht. Aus den Berichten der Ärzte, auf die der psychiatrische Gutachter Hermann Aßfalg bei der Verhandlung eingeht, gehen noch weitere Vorfälle hervor.

Ursprünglich waren zwei Termine zur Verhandlung angesetzt. Nach den Aussagen von acht Zeugen und einem Sachverständigen, entscheidet das ...
Ursprünglich waren zwei Termine zur Verhandlung angesetzt. Nach den Aussagen von acht Zeugen und einem Sachverständigen, entscheidet das Gericht kurzfristig, noch am 25. September ein Urteil zu fällen. | Bild: Denise Kley

Seltene Art der Halluzinationen

Seit 2011 ist der Angeklagte aufgrund einer Alkoholsucht regelmäßig zeitweise im ZfP. Diese Sucht könnte laut Hermann Aßfalg auch die Basis für seine Wahnvorstellungen sein: „Alles spricht für eine chronische Alkoholhalluzinose und nicht Schizophrenie.“ Darauf deutet unter anderem hin, dass sich seine Situation bezüglich der Verfolgungsideen in der Vergangenheit bei und nach Aufenthalten im ZfP verbessert hat – bis der Alkohol zurückkam. Für den Gutachter ist es eine ungewöhnliche Diagnose: „In meinen 30 Jahren im Beruf habe ich vielleicht zwei oder drei Fälle von Alkoholhalluzinosen erlebt.“

Auch zur Tatzeit sieht Aßfalg keine Zweifel, dass eine psychotische Symptomatik vorlag. „Es ist klar, dass er sich so in seinem Leben bedroht gefühlt hat, dass er sich aus seiner Sicht schützen musste.“ Damit sieht er den Angeklagten auch nicht als schuldfähig an. Allerdings sieht der Gutachter auch eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine Wiederholung. Zum einen zeigt die Geschichte des Angeklagten, dass die psychotischen Erlebnisse immer zurückkehren, wenn er das ZfP verlässt. Zum anderen sinkt erfahrungsgemäß auch die Hemmschwelle, in solchen Episoden zum Beispiel ein Messer zu benutzen, wenn Erkrankte einmal diese Grenze überschritten haben.

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Täter muss in Psychiatrie bleiben

Diese Aspekte sind auch für Richter Veiko Böhm bei der Urteilsfindung entscheidend. Das Gericht erachtet den 62-Jährigen als nicht schuldfähig, ordnet aber die weitere Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung an. „Es besteht die Gefahr, dass über kurz oder lang Blut fließt. Dieses Risiko können wir nicht eingehen“, begründet Richter Böhm das Urteil. Trotzdem sieht er zumindest die Chance auf eine Perspektive, wenn durch dieses Urteil die endlose Schleife an Kurzaufenthalten im ZfP nun durchbrochen wird und dem Mann möglicherweise auch nachhaltig geholfen werden kann.