Der Babyboom am Bodensee ist ungebrochen. 2021 wurden in den beiden Krankenhäusern des Medizin-Campus Bodensee (MCB) 2250 Babys geboren. Besonders beliebt bei den werdenden Müttern ist der Kreißsaal in Tettnang: Hier gab es 952 Geburten, ein Plus von 307 Geburten zum Vorjahr. Doch ausgerechnet die bei werdenden Eltern beliebteste Geburtsklinik in der Region soll, zumindest nach den Plänen von Sozialminister Manfred Lucha (Bündnis 90/Die Grünen), abgewickelt werden.
Auf den Ärztlichen Direktor des Tettnanger Klinikums Dr. Christian Fünfgeld, der selbst Gynäkologe ist, wirken die Pläne des Sozialministers reichlich unüberlegt: „Das war ein Schnellschuss von Lucha. In der Geburtshilfe funktioniert das so nicht.“ Man könne die kleinen Geburtskliniken wie in Tettnang oder Wangen nur dann schließen, wenn es dementsprechend große andere Kliniken mit mehr Kreißsälen geben würde. Die seien aber überhaupt nicht vorhanden.

„Wir Gynäkologen tauschen uns per Notfalltelefon aus, wo wir die Frau mit Kaiserschnitt hinschicken können.“Dr. Christian Fünfgeld, Ärztlicher Direktor Klinikum Tettnang
Es ist laut Fünfgeld nichts Neues, dass es in der Geburtshilfe zu Engpässen kommt. „Wir Gynäkologen tauschen uns heute schon per Notfalltelefon aus, wo wir die Frau mit Kaiserschnitt oder einer Einleitung hinschicken können, wenn es in der eigenen Klinik keine Kapazitäten mehr gibt.“ Die Politik habe die Geburtenentwicklung falsch eingeschätzt und in großen Häusern viel zu kleine Kreißsäle gebaut, berichtet er. Hinzu komme, dass die Geburtshilfe nicht lukrativ sei: „Die Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft rechnet sich erst mit der Menge der Geburten. Und so bringt die Geburtshilfe große Defizite und erhöht sogar das Insolvenzrisiko von Kliniken.“ Die Folge: Viele Kreißsäle in der Region arbeiten am Limit – finanziell und personell.
Dieser brenzligen Situation in der Geburtshilfe steht der Wunsch der Frauen nach einer freien Auswahl des Geburtsorts gegenüber. Während sogenannte Hochrisiko-Geburten, beispielsweise Zwillings- oder Drillingsgeburten, in Kliniken mit angeschlossener Kinderklinik wie in Friedrichshafen stattfinden, versorgt Tettnang Schwangere, die ohne Risiko, spontan entbinden wollen. „Zu uns kommen Schwangere, die bei der Geburt die Sicherheit der Klinik, aber die Atmosphäre wie im Wohnzimmer haben wollen“, erklärt Fünfgeld. Tettnang könne diesen Wunsch dank des engagierten Personals, das mit Herz und Seele dabei sei und die Geburtshilfe nicht als lästiges Übel betrachte, erfüllen. Für den Gynäkologen steht fest: „Es ist meine Aufgabe, für den Erhalt der Tettnanger Klinik zu kämpfen.“

Tettnanger Kreißsaal ist viel beliebter als alle anderen in der Region
Dass die Tettnanger Geburtshilfe, bestehend aus Frauenärzten, Kinderkrankenschwestern und freiberuflichen Hebammen, bei Eltern besonders großes Vertrauen genießt, spiegelt sich auch in den Online-Klinikbewertungen (klinikbewertungen.de) wider. Tettnang ist dort viel beliebter (81 Prozent „sehr zufrieden“, 8 Prozent „unzufrieden“) als der Häfler Kreißsaal (43 Prozent „sehr zufrieden, 38 Prozent „unzufrieden) oder das St. Elisabethen-Klinikum in Ravensburg (39 Prozent „sehr zufrieden, 42 Prozent „unzufrieden“) und liegt sogar deutlich über dem Bundesdurchschnitt (64 Prozent).
Aus den großen Kliniken Friedrichshafen und Ravensburg finden sich etliche Berichte von Frauen, die keinen Platz mehr in einem Kreißsaal fanden, während der Geburt allein waren, sich schlecht versorgt fühlten – oder sogar kilometerweit von Kreißsaal zu Kreißsaal fahren mussten.
Eine Mutter beschreibt, wie sie ihr Kind im CTG-Zimmer bekommen musste, wo ihr allerdings keine Schmerzmittel oder gar eine PDA verabreicht werden konnten. Es sei kein Kreißsaal frei gewesen. Eine andere berichtet frustriert: „Leider wurde vermutlich wegen Personalmangel zu wenig Zeit für Betreuung gewidmet. Das Schrecklichste ist, dass man in allerwichtigsten Moment alleine gelassen wird.“

Ein Vater schreibt von einer regelrechten Odyssee-Fahrt bei der Geburt seines Kindes von Bad Saulgau (Kreißsaal kurzfristig geschlossen), Ravensburg (Kreißsaal belegt) bis das Kind schließlich in Sigmaringen zur Welt kommen konnte. Die Antworten der Kliniken auf die schlechten Bewertungen klingen immer ähnlich: Es gebe Personalknappheit, Geburten seien schwer kalkulierbar, man könne sich direkt mit der Klinik in Verbindung setzen.

Nach Tettnang gehen Gebärende aufgrund der guten Betreuung
Solche Berichte gibt es aus dem Klinikum Tettnang nicht. Viele werdende Eltern kommen auf Empfehlung, manche Mütter hatten bereits schon eine erste traumatische Geburt in einer anderen Klinik. „Wir würden bei einem weiteren Kind auf jeden Fall wieder kommen, auch wenn wir geografisch zu anderen Krankenhäusern näher hätten“, schreibt eine Mutter. Besonders hervorgehoben werden in den Bewertungen stets zwei Dinge: eine fachlich-exzellente Betreuung durch die Ärzte und Hebammen und – für Geburten maßgeblich – eine vertrauensvolle, gute Atmosphäre.
„Die Hebamme war immer bei mir und ich wurde total gut unterstützt.“Jamina Palumbo, Mutter
Das kann Jamina Palumbo nur bestätigen, die 2019 ihren Sohn Milan in Tettnang bekommen hat: „Es geht es familiär zu und alle sind so motiviert und kümmern sich sehr gut um einen. Ich hatte nie das Gefühl, alleine gelassen zu werden, sondern wurde total gut unterstützt.“ Die Hebamme sei immer bei ihr geblieben, hätte ihr später auch bei der Atmung und dem Pressen geholfen. „Die erste Geburt lief entspannt und einwandfrei und auch beim Stillen habe ich viel Hilfestellung im Wochenbett bekommen, denn ich war beim ersten Kind natürlich in vielen Dingen sehr unsicher“, berichtet Palumbo. Sollte es ein zweites Kind geben, würde sie das auf jeden Fall wieder gerne in Tettnang bekommen. Ob das dann noch möglich ist, hängt nun von den politischen Entscheidern ab.