Als Anton Jež die Steintreppe hinab in das düstere Loch stieg, das wir heute Bahnhof Mitte nennen, wuchs seine Todesangst weiter. Unten an den Gleisen, so glaubte der 20-jährige Slowene, würden die SS-Wachen ihn und die anderen Häftlinge erschießen. Es war Freitag, der 20. April 1945, als das Konzentrationslager Überlingen geräumt wurde.
Ein Brotlaib wurde in 25 Stücke aufgeteilt
Seit Wochen war die Angst immer weiter gewachsen gewesen, erinnerte sich Anton Jež später an seine letzten Tage in Überlingen. Seit dem Bombenangriff auf die Bahnhofsanlagen am 22. Februar 1945 seien sie nicht mehr zur Arbeit gezwungen worden und hätten Zeit zum Nachdenken gehabt. Viele hätten sich gefragt: „Werden die Stollen zusammen mit uns gesprengt?“ Weil sie nicht mehr arbeiteten, wurde das wenige Essen weiter reduziert. Manchmal gab es noch einen Laib Brot, der in 25 Stücke aufgeteilt wurde. An den letzten beiden Tagen waren Kartoffeln und Rüben aufgebraucht. Es gab nur noch Brennnesselsuppe.
Ausgemergelte Gestalten in Hälftingsanzügen
Bereits am 5. April waren 214 schwer kranke Häftlinge aus Überlingen ins KZ Saulgau verlegt worden, das eine Krankenstation hatte. Bei der Ankunft seien die „Häftlinge aus Überlingen vollkommen abgemagert, fast verhungert, abgerissen und völlig verlaust“ gewesen. „Die meisten von ihnen konnten kaum gehen.“ So beschrieben es Zeugen. Schon während der Zugfahrt waren zwei Häftlinge gestorben. Bis die Franzosen das Lager Saulgau am 22. April befreiten, starben weitere 20 Überlinger Häftlinge.

Was Zeitzeugen berichten
Wie Anton Jež haben alle ehemaligen Häftlinge, mit denen der Überlinger Historiker Oswald Burger im Laufe der Jahrzehnte sprach, an jenen 20. April ganz besondere Erinnerungen. Am Abend mussten alle der etwa 800 Männer auf dem Appellplatz des Lagers antreten, er lag zwischen zwei der drei Wohnbaracken. Von dort aus marschierten sie die Aufkircher Straße hinab. Ausgemergelte Gestalten in zebragestreiften Häftlingsanzügen. Nur das Klappern der Holzpantinen hallte von den Häusern wider. Wer sich nicht an den Befehl „Augen geradeaus“ hielt, dem schlug ein SS-Mann mit dem Gewehrkolben in den Nacken.
Der Marsch endete, wo der Tunnel der Bodenseegürtelbahn nach oben offen ist. „Die beiden Treppen, die hinunterführen, stammen bereits aus der Bauzeit“, beschreibt Burger, „das war von vorneherein als Haltepunkt vorgesehen.“
Schließlich hielt ein Zug. „Wir wurden einwaggonniert mit zwei mal zwei Wachposten“, so Jež. Das seien aber keine SS-Angehörigen gewesen. „Zu unserer großen Überraschung bekamen wir den gleichen Proviant wie unsere Soldatenwache – das war eine sehr beruhigende Geste.“ In den geschlossenen Güterwagen verbrachten die Häftlinge den ganzen Samstag, 21. April. Ziel sollte das Stammlager Dachau sein. Auf dem Münchner Hauptbahnhof habe der Kommandant Kontakt mit Dachau aufgenommen. Es sei heillos überfüllt, sagte man ihm.

Von Überlingen über Saulgau nach München
So ging es ins KZ München-Allach. Am Sonntag, 22. April kamen die Überlinger Häftlinge dort an. „Am Tag wurden auf dem Appellplatz Transporte formiert, den ganzen Tag warteten wir im Freien“, so Jež. „Am Abend wurden wir abgelöst. Zum Glück! Wie wir später erfuhren, waren das sogenannte Todestransporte.“ Die berüchtigten Todesmärsche führten am Starnberger See und am Ammersee vorbei, bis die SS die Häftlinge ermordete.
Am 25. April wurde der Transport aus Überlingen auf dem Appellplatz komplett ausgezogen. Die Außentemperatur betrug rund 8 Grad. Nach einer Komplettrasur wurden die Männer in einer mit Alaunlösung gefüllten Wanne desinfiziert. Anton Jež nennt diesen Mittwoch den „Tag der Affen“: „Es war ein göttlicher Anblick auf einige hundert hüpfende Skelette. Nach längerer Zeit, als wir schon gut froren, bekam jeder eine halbe Decke, manche war mit dem Kot der Gestorbenen beschmutzt. Dann wurden wir wie Vieh in eine Betonbaracke getrieben. – Nackte Affen, bis zum Skelett abgemagert, hungrig, frierend und hoffnungslos.“

Der letzte Überlebende erinnerte an das Lager
Anton Jež starb am 20. April 2021, auf den Tag genau 76 Jahre nach der Auflösung des KZ Überlingen. Er war der letzte Überlebende des Lagers und bis zu seinem Tod berichtete er bei Besuchen am See regelmäßig über seine Erlebnisse. Andere Häftlinge konnten das Erlebte nie in Worte fassen. So der slowenische Architekt und Maler Boris Kobe (1905 bis 1981). Sein Vermächtnis ist sein berühmtes Lager-Tarockspiel mit 22 Bildkarten, das er in Allach nach der Befreiung malte. Elf Karten zeigen Dachau, sieben den Stollenbau in Überlingen und drei Karten das Ende in Allach.
Eine Spielkarte erzählt vom Moment der Befreiung, den Kumpels von Kobe und Jež, andere Slowenen, Oswald Burger beschrieben haben: An jenem Montag, 30. April 1945, geht plötzlich die Türe auf und im Rahmen steht ein Unteroffizier der US-Armee, ein schwarzer Mann, wie ihn die Slowenen vorher noch nie gesehen haben. Ihr Befreier. Er schaut sich um und ruft: „You are free!“
„Das ganze KZ brannte“
Binnen eines Tages verschwanden die Spuren des Konzentrationslagers aus Überlingen. In mehreren Veröffentlichungen findet sich Oswald Burgers Interview mit Charlotte Mitzel. Die damals 14-jährige Tochter des Restaurators Victor Mezger sen. beschreibt: „Der 21. April 1945 war ein wunderschöner Frühlingstag. Meine Tante und ich brachen morgens auf zu einem Spaziergang in die Baumblüte.“ Kaum aus dem Haus, nahmen die beiden einen Brandgeruch wahr und folgten ihm: „Das ganze KZ brannte, Baracken und Wachttürme und auch ringsherum die blühenden Obstbäume. Kein Mensch weit und breit, auch keine Feuerwehr.“
Kein Wunder: Die Überlinger Feuerwehr hatte den Brand selbst gelegt, angeblich wegen der Seuchengefahr. Vielleicht aber auch, so Burger, um den Makel, den das Lager dem Bild der geruhsamen Kurstadt beizufügen drohte, auszulöschen.
Die Stadt wollte das KZ verhindern – 2023 taucht der Beweis auf
Und dann nennt Historiker Burger noch einen weiteren Grund für die schnelle Beseitigung des Lagers: „Die Überlinger hatten es nie gewollt.“ Bei der Recherche zu seinem Beitrag über das Dritte Reich für die 2023 erschiene Chronik zum 1250-jährigen Stadtjubiläum machte er im Stadtarchiv eine Entdeckung. Eine bisher unbekannte Akte mit dem Titel: „Geplanter Stollenbau“.
„NSDAP-Bürgermeister Albert Spreng hat mit großer Tatkraft versucht, den Bau der Stollenanlage zu verhindern“, beschreibt Burger. Die entsprechenden Beratungen im Gemeinderat sind in der Akte protokolliert. Spreng und die Räte kamen schließlich auf die Idee, die beiden berühmtesten Nazis in der Stadt nach Berlin zu schicken, um bei Adolf Hitler persönlich zu intervenieren. Das war einmal der NS-Schriftsteller Carl Rothe (1900 bis 1970), und dann vor allem eine Frau, die als enge persönliche Freundin Adolf Hitlers großen Einfluss auf ihn hatte: Winifred Wagner (1897 bis 1980), einzige Schwiegertochter des Komponisten Richard Wagner. Doch die Intervention blieb erfolglos. In einer abschließenden Antwort des Reichsstatthalters in Baden hieß es, man brauche Infrastruktur, die Eisenbahn, die Straße. Das lag beim Überlinger Stollenstandort direkt vor der Türe – Spreng hatte die gegenüberliegende Marienschlucht vorgeschlagen.