Eltern sind die Situation
nicht mehr gewohnt

Im Kampf gegen die zu schnelle Ausbreitung des Corona-Virus sind ab kommenden Montag, 16. März 2020, auch in Baden-Württemberg alle Kindergärten und Schulen dicht. Vor allem auf die Eltern von Kindern im Vorschul- und Grundschulalter kommen herausfordernde Wochen zu. Noch bevor die Schließung endgültig beschlossen war, diskutierte Claudia Wetzel-Thiel, Leiterin des evangelischen Dietrich-Bonhoeffer-Kinderhauses, am Morgen des heutigen Freitag, 13. März, mit mehreren Müttern über das Thema, was sie denn nun in den eigenen vier Wänden mit ihren kleinen Kindern Sinnvolles anfangen sollten.“Die Frauen, Akademikerinnen mit Bildung, haben einfach Sorge, was da auf sie zukommt“, sagt die Pädagogin, „die Eltern sind das nicht mehr gewohnt, ihre Kinder den ganzen Tag zuhause zu haben und sie sinnvoll zu beschäftigen“. Natürlich komme auch nicht in Frage, „kleine private Kitas zu entwickeln“, indem sich die Kinder gegenseitig besuchen. „Jede Familie soll ja unter sich bleiben, um sich nicht anderswo anzustecken“, erinnert die Kindergärtnerin an den Sinn der radikalen Maßnahme.

„Natürlich ist das eine Herausforderung“

„Die Eltern sind es tatsächlich gar nicht mehr gewöhnt, sich mit ihren Kindern gemeinsam zu beschäftigen“, sagt Wetzel-Thiel, „weil sie selbst oft einen so anstrengenden Berufsalltag haben, dass sich am späteren Nachmittag oder am frühen Abend fast alles um organisatorische Fragen dreht.“ Die Mutter fährt das Kind noch zum Ballett oder in die Musikschule, es geht schnell zum Einkaufen und dann ist schon Abendessen – danach ab ins Bett.“ Was jetzt auf die Eltern zukommt, kann ein Gegenprogramm zur gewohnten Hektik werden, wie die Kinderhauschefin beschreibt: „Natürlich ist das eine Herausforderung, die vielen Tage, die man jetzt vor sich hat, die Kinder ganztags in der Wohnung zu haben – vielleicht in einer begrenzten Wohnung, die keinen Garten, keinen Balkon hat.“ Aber Wetzel-Thiel hat Antworten auf die Frage, wie Eltern mit ihren Vorschulkindern einen pädagogisch sinnvollen Tag gestalten.

Kann mein Kind schon die Farben erkennen, einen Stift richtig halten? Wenn Eltern zwangsweise Zeit mit ihren Kindern verbringen, ...
Kann mein Kind schon die Farben erkennen, einen Stift richtig halten? Wenn Eltern zwangsweise Zeit mit ihren Kindern verbringen, entdecken sie Fragen, auf die sie in der gewohnten Tageshektik gar nicht gekommen wären. | Bild: Pestalozzi-Kinderdorf

„Das kann ein großes Geschenk sein“

„Ich habe die Eltern ermuntert, die Tage und Wochen zu nutzen: Es lohnt sich, jetzt Dinge zu tun mit den Kindern, die Ihr sonst vielleicht nicht macht. Seht diese sicher nicht einfache Zeit als Chance, ihr lernt Eure Kinder dadurch nochmals neu kennen, intensiver kennen.“ Claudia Wetzel-Thiel meint, in einer solchen Ausnahmezeit könnten Eltern den Entwicklungsstand ihres Kindes einmal selbst konkret und bewusst wahrnehmen. „Das kann ein ganz großes Geschenk sein: Einfach mal genau hinschauen, kann denn mein Kind schon den Stift halten, erkennt mein Kind schon die Farben, kann mein Kind schon mit dem Zahlenwürfel spielen?“ Die engagierte Hortleiterin appelliert an die Eltern, die Muße, die Zeit mit ihren kleinen Kindern bewusst zu erleben und spricht die Eltern an: „Jetzt habt ihr Zeit, gemeinsam zu lesen, mit den Kindern zu basteln.“

Sinnvolle Beschäftigungen müssen kein Geld kosten

„Das große Geld braucht es für dieses intensive gemeinschaftliche Erlebnis bestimmt nicht“, sagt Claudia Wetzel-Thiel. Auch wenn es sonst so oft der Vergnügungspark oder Zoo sein müsse, Kinder könnten glücklich sein mit ganz „niederschwelligen Angeboten“. Wichtig sei für Kinder, eine positive Wechselwirkung zu spüren mit ihren Eltern. Wie das geht, das beschreibt Claudia Wetzel-Thiel an vielfältigen Beispielen, die ganz banal bei wohlbekannten Basteln beginnen. Und dann manchmal schon daran scheitern, weil keine Kinderschere mehr zuhause sei. Aber die ist ja doch schnell gekauft. „Kinder schneiden gerne aus, da kann man eine Zeitschrift nehmen, eine Zeitung oder Werbeprospekte – da schneiden wir dann gesunde Lebensmittel aus und kleben sie auf einen Karton: Kinder wissen sehr wohl, der Apfel ist gesund und die Süßigkeiten zerstören die Zähne.“

Aus Erfahrung weiß Wetzel-Thiel auch, dass immer weniger Kinder zuhause einen Ball haben. „Und der ist ganz wichtig in der Pädagogik – er ist eines der ältesten Kinderspielzeuge überhaupt und macht Kindern auch heute noch eine riesige Freude.“ Ganz einfach, kostet nicht viel und er schult die Feinmotorik, die Bewegung der Hände und Finger.

Die Verlockung kann für gestresste Eltern manchmal groß sein, ihren kleinen Kindern stundenlanges Fernsehen zu erlauben. Aber Claudia ...
Die Verlockung kann für gestresste Eltern manchmal groß sein, ihren kleinen Kindern stundenlanges Fernsehen zu erlauben. Aber Claudia Wetzel-Thiel warnt: Ein Stunde am Tag, aufgeteilt auf drei Happen, sollte genug sein. | Bild: Robert Schlesinger, dpa

Fernsehen in „sehr dosierten Maßen“

Die Pädagogin ist sich sehr wohl dessen bewusst, dass für Eltern die Verlockung bisweilen groß sein kann, ihre kleinen Kinder vor dem Fernseher für ein paar Stunden mal sich selbst zu überlassen. Doch Vorsicht: „Zu viel Fernsehkonsum macht einsam und traurig und manchmal dumm“, zitiert Wetzel-Thiel den Neurowissenschaftler Manfred Spitzer. „Fernsehen ja, aber in sehr dosierten Maßen“, sagt sie, „wenn ein vierjähriges Kind am Tag 60 Minuten schaut, geht das noch – aber verteilt auf zwei, drei Portionen vom Morgen bis zum Sandmann“. Und man müsse genau überlegen, was man anschaut. Die Pädagogin nennt nicht nur Familienklassiker wie Die „Sendung mit der Maus“ oder „Pipi Langstrumpf„. Und Tiersendungen. Sondern auch Themen wie Forschen, Experimentieren, Weltall. „Ruhig auch die großen Themen.“ Solche Beiträge sollen sich Eltern und Kinder gemeinsam anschauen, dann den Fernseher ausmachen und nochmals über das Thema reden und aufschreiben: Was haben wir gesehen, was haben wir gelernt, was ich wichtig?

Kinder haben einen angeborenen Bewegungsdrang, sagt Kindergärtnerin Claudia Wetzel-Thiel, dem sollten Eltern nachgeben. Wer keinen ...
Kinder haben einen angeborenen Bewegungsdrang, sagt Kindergärtnerin Claudia Wetzel-Thiel, dem sollten Eltern nachgeben. Wer keinen eigenen Garten mit einer Schaukel hat, geht mit seinem Kind spazieren und lässt es im Wald auch mal toben. | Bild: AdobeStock

Statt Bildschirm lieber Naturerlebnis

Alternativ zum Fernseher biete sich das Thema „Naturlererlebnis“ an. „Wenn ich mich als Mutter die nächsten drei Wochen mit meinem Kind beschäftige soll, dann gehe ich raus in die Natur.“ Ein Spaziergang der Eltern mit dem Kind. Bewegung sei das natürlichste für die Kinder. Klettern, Laufen, Rennen diene auch der kognitiven Entwicklung. Schon ganz früh, ab 14 Monaten erlebten die Kinder die Unterschiede beim Laufen auf Gras, auf Pflaster, auf Waldboden. „Kinder haben einen natürlichen Bewegungsdrang und leider wird der ja von uns Erwachsenen oft ausgebremst.“ Selbst zuhause kann die Natur Thema sein: Kressesamen in einen Blumentopf und die nächsten zwei Wochen täglich zusammen beobachten, was passiert. „Auch wir Pädagoginnen können nicht mehr alle Pflanzen und Bäume mit dem Namen bezeichnen“, beschreibt Wetzel-Thiel. Deshalb könne es Erwachsenen und Kindern etwas bringen, einfach mal aus dem Fenster zu schauen und sich zu fragen: wie heißen denn die Pflanzen, die draußen vor dem Fenster wachsen und blühen. Bücher oder Internet helfen dabei und dann können die Kinder Pflanzen und Vögel malen. Wer die Möglichkeit hat, einen Nistkasten rauszuhängen, der kann dann beobachten, was sich dort tut.

Eine Vogeltränke oder ein Nistkasten lockt die Tiere an, wie hier Spatzen, die man täglich beobachen kann.
Eine Vogeltränke oder ein Nistkasten lockt die Tiere an, wie hier Spatzen, die man täglich beobachen kann. | Bild: Norbert Kiel

Die Küche als Erlebnisbereich

Die allermeisten Kindern lieben es zu backen, zu kochen, Gemüse zu schneiden oder Obstsalat herzurichten, weiß Kindergartenleiterin Wetzel-Thiel aus Erfahrung. „Mit Kartoffelbrei aus richtigen Kartoffeln oder Apfelmus aus echten Äpfeln kann man schon kleine Kinder begeistern.“ Dabei könne man über gesunde Ernährung sprechen – und mit ganz wenig Geld eine Suppe kochen, wirbt die Kindergärtnerin dafür, Kinder an hauswirtschaftliche Tätigkeiten heranzuführen.

„Und nie das Lachen vergessen“

Lachen und Fröhlichkeit sind in den kommenden Wochen wichtiger denn je.
Lachen und Fröhlichkeit sind in den kommenden Wochen wichtiger denn je. | Bild: AdobeStock

Eine gute Möglichkeit, sich vielerlei Anregungen zu holen, finden Eltern in den sechs Lernfeldern des „Orientierungsplanes Baden-Württemberg„, der für die Kindergärten Vorgabe ist. „An dem können sich auch Eltern entlang hangeln“, sagt Wetzel-Thiel. „Und nie das Lachen vergessen.“ Eine positive Lebensstimmung zu vermitteln, sei gerade jetzt wichtig. Natürlich blieben Konflikte nicht aus, wenn Eltern und Kinder dauernd zusammen sind. Dabei sei wichtig daran zu denken, dass auch Kinder das Recht haben, ihre Sicht zu schildern. „Konflikte muss man im Gespräch lösen, in Ich-Botschaften. Also nicht: Du Böser, was bist du für ein unmögliches Kind. Sondern: Ich bin traurig, wenn ich sehe, dass Ihr Euch da schlagt. Jetzt reden wir und Du erzählt und ich höre dir ganz genau zu.“

Um Kindern sinnliche Erfahrungen zu vermitteln, reicht ein Blume.
Um Kindern sinnliche Erfahrungen zu vermitteln, reicht ein Blume. | Bild: MariaSbytova.com
Im Kindergarten stehen Lehrmaterialien zur Verfügung, die kann man zuhause aber auch ohne Kosten selbst improvisieren.
Im Kindergarten stehen Lehrmaterialien zur Verfügung, die kann man zuhause aber auch ohne Kosten selbst improvisieren. | Bild: Arno Burgi
Spiele nach Regeln wie Mensch ärgere Dich nicht sind wichtig, damit Kinder das Verlieren lernen.
Spiele nach Regeln wie Mensch ärgere Dich nicht sind wichtig, damit Kinder das Verlieren lernen. | Bild: dpa
Auch mit Gefühlen umgehen lernen, gehört dazu.
Auch mit Gefühlen umgehen lernen, gehört dazu. | Bild: GW20 Foto
Weshalb feiern wir eigentlich Ostern? Eine Frage, die man in den nächsten Wochen nicht nur mit seinen Kindern diskutieren kann, sondern ...
Weshalb feiern wir eigentlich Ostern? Eine Frage, die man in den nächsten Wochen nicht nur mit seinen Kindern diskutieren kann, sondern sich auch selbst stellen darf. | Bild: Petra Wunderle
Wer einen Garten hat und auch noch Hunde, hat es leichter, sein Kind spielen zu lassen.
Wer einen Garten hat und auch noch Hunde, hat es leichter, sein Kind spielen zu lassen. | Bild: AdobeStock