Julia Rieß

Als vor 47 Jahren die Waldorfschule in Überlingen erstmals ihre Türen für die Schüler öffnete, stieß sie in Überlingen eher auf Widerstand, erinnert sich Mathis Bockemühl, ein Lehrer der ersten Stunde, der dort auch heute noch unterrichtet.

Die markante Dachlinie des Hauptgebäudes wird inzwischen von viel Grün verdeckt.
Die markante Dachlinie des Hauptgebäudes wird inzwischen von viel Grün verdeckt. | Bild: Julia Riess

Die Heime und Einrichtungen in und um Überlingen wollten eine Waldorfschule. Die Stadt aber lehnte sie ab: „Überlingen sagte, wir brauchen das nicht, wir haben lauter gute Schulen. Was übrigens bis heute stimmt“, sagt Mathis Bockemühl. „In der Zeit, als das hier losgegangen ist, waren wir ein absoluter Fremdkörper in Überlingen. Heute sind wir eine sehr gefragte Alternative, wir haben mehr Anmeldungen als Plätze.“

Akzeptanz langsam gewachsen

Der Wandel vollzog sich langsam. „Ich würde sagen, 1990 fing es an, besser zu werden und seit 2010 ist es gut“, erinnert sich Bockemühl. Er glaubt, dass es die Skepsis gegenüber dem Unbekannten war, mit der die Waldörfler „da oben“ konfrontiert waren.

Der Westbau Ende der 70er Jahre noch eingerüstet.
Der Westbau Ende der 70er Jahre noch eingerüstet. | Bild: Waldorfschule Überlingen

Je mehr Schüler ihren Abschluss machten und später ihre eigenen Kinder auf die Schule schickten, desto mehr etablierte sich die Schule. Und je mehr ehemalige Schüler bewiesen, dass sie sich in allen möglichen Positionen behaupteten – vom Flugkapitän bei der Lufthansa bis zum leitenden Chefarzt.

Der Westbau 2019.
Der Westbau 2019. | Bild: Julia Riess

Doch zunächst stellten sich viele die Frage, ob sich die Schüler, die ein Leben ohne Notendruck und Angst vorm Sitzenbleiben gewöhnt sind, in der leistungsorientierten Gesellschaft behaupten können. Davon kann auch Daniela Oesterreich, die von 1976 bis 1981 als Schülerin die Waldorfschule besuchte und seit 1989 dort unterrichtet, ein Lied singen: „Ich bin in der anschließenden Berufsschule aufgefallen, weil ich Fragen gestellt habe. Es hieß dann: „Ach, Waldorfschule!?“

Bereits in den 1970er Jahren hatten die Schüler Spaß beim Gartenbau.
Bereits in den 1970er Jahren hatten die Schüler Spaß beim Gartenbau. | Bild: Waldorfschule Überlingen

Die Abiturprüfung ist seit jeher „tupfengleich wie in ganz Baden-Württemberg. Wenn einer dort eine Fünf kriegt, kriegt er auch bei uns eine Fünf“, erklärt Bockemühl.

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Es gebe aber durchaus Waldorf-Absolventen, die sich zunächst verloren fühlen in der „normalen“ Arbeitswelt. Doch die Waldorfschüler hätten einen entscheidenden Vorteil: Sie seien darin geschult, konstruktiv mit neuen Situationen umzugehen, seien hervorragende Querdenker.

Daniela Oesterreich (links) und Mathis Bockmühle, selbst ehemalige Waldorfschüler, unterrichten heute an der Waldorfschule Überlingen.
Daniela Oesterreich (links) und Mathis Bockmühle, selbst ehemalige Waldorfschüler, unterrichten heute an der Waldorfschule Überlingen. | Bild: Julia Riess

Eine Eigenschaft, die laut Bockemühl und Oesterreich in Zukunft zunehmend wichtiger werde. „Wir gehen bei vielen Dingen nicht in die Tiefe, aber wir machen sehr viele Dinge“, sagt Daniela Oesterreich und ergänzt: „Und solch eine breite Erziehung wird zunehmend wichtig angesichts einer Zukunft, die völlig neue, noch unsichtbare Probleme mit sich bringen wird.“ Da brauche es Vielseitigkeit und Nonkonformismus.

Schulung der Feinmotorik

Extrem wichtig dafür, das ist Daniela Oesterreich wichtig, ist die Schulung der Feinmotorik, die nachgewiesenermaßen für flexibles Denken Voraussetzung ist.

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Und hier sei eine erschreckende Entwicklung zu erkennen: „Wenn ich den Kindern das Stricken beibringe, sitzen wir im Kreis und sie können zusehen, wie ich es mache. Früher konnten es von 18 Kindern 15 selbstständig nachmachen, und drei Kindern musste ich helfen. Heute ist das Verhältnis genau anders herum. Heute schaffe ich es, auch als erfahrene Lehrerin, nicht, alleine der Gruppe das Stricken beizubringen. Da brauche ich zwei helfende Hände.“

Im Jahr 1972 wurde der erste Bauabschnitt des Altbaus gefeiert.
Im Jahr 1972 wurde der erste Bauabschnitt des Altbaus gefeiert. | Bild: Waldorfschule Überlingen

Während sich staatliche Schulen an den vorgegebenen Lehrplan halten müssen, können die Lehrer der Waldorfschule auf solche Defizite eingehen. „Wir fragen die Eltern, ob sie einverstanden sind, und dann machen wir es.“