In Überlingen aufgewachsen, hier zur Schule gegangen – und dann? Studiert wird in München, Berlin, Paris oder London und Silicon Valley liegt auch nicht gerade am Bodensee, die attraktiven Startups finden Viele woanders. Doch jedes Jahr an Weihnachten trifft man sich am See, zu Hause und feiert nicht nur im Kreise der Familie. Viele zieht es in das Galgenhölzle, dorthin, wo man sich früher oft nach der Schule getroffen hat, um abzuhängen – in einer geliebten Kultkneipe.
Besitzer und Gastwirt Michael Jeckel hat den „Galgen“ vor 38 Jahren aufgemacht, ganz im Stil einer Hamburger Szenenkneipe und der Erfolg gibt ihm recht. Hier ist die Jugend zuhause, hier stimmt die Atmosphäre, das Angebot und vor allem die Leute, hier kann man alles machen, was man daheim nicht darf, so Michael Jeckel. Und jedes Jahr an Weihnachten ist hier mächtig was los. Etwa 350 Leute passen rein, mindestens nochmal so viele stehen draußen und feiern und wenn man die Gäste der benachbarten Krone dazu nimmt, sind es an die Tausend Leute, die sich am 23. und 24. Dezember hier treffen.
Es ist schade, dass die Stadt Überlingen die jungen Leute nicht wirklich halten kann, es fehlt an geeigneten Arbeitsplätzen, an einer für junge Erwachsene attraktiven Infrastruktur.
Da sei einiges versäumt worden in den letzten Jahren, so Jeckel, und er hofft, dass Überlingen aus dem „Rentnerschlaf“ wieder erwacht, dass nicht nur teure Luxuswohnungen mit Seesicht aus dem Boden gestampft werden, sondern auch preisgünstiger Wohnraum für junge Familien und vor allem eben Arbeitsplätze, vielleicht auch eine kleine aber feine Hochschule auf Schloss Rauenstein.
Fragt man die jungen Leute, die sich an Weihnachten hier einfinden, gibt es eine ausgeprägte Sehnsucht nach Überlingen, nach dem See, der schönen Landschaft, nach der heimeligen Atmosphäre in der Stadt, alles ist überschaubar und irgendwie berechenbar.
Weihnachtslieder auf die Freundschaft
Die ganze Klasse habe sich bei ihm zu Hause zum "Warm up" getroffen, sagt Benedikt Overhof. Die Gruppe ist schon hörbar fröhlich unterwegs und zieht nun gemeinsam zum "Galgen". Die Gruppe um Benedikt Overhof hat 2012 auf der Waldorfschule Rengoldshausen gemeinsam Abi gemacht, "und natürlich kommen wir jedes Jahr aus allen Himmelsrichtungen an Weihnachten hier zusammen", sagt er. Michael Diwersy studiert in England Sport und Englisch, der hat den weitesten Weg, Lennart Diwersy kommt aus Berlin, studiert Eventmanagement und Christoph Bochmann wird mal Zahnarzt und studiert an der Uni in Witten Herdecke.
Von Berlin zurück nach Überlingen
Linda Kuhn hat im Galgen in Überlingen soeben Clemens Bruhn getroffen. Beide kennen sich von der Schule, wenn sie auch nicht in dieselbe Klasse gegangen sind. Linda erzählt, dass sie einmal Grundschullehrerin werden möchte und sie in Freiburg studiert. Sie nennt Überlingen ihr zu Hause, wie eigentlich alle, die sich heute Abend im Galgen treffen. Clemens hat 2010 in Überlingen sein Abitur gemacht und studiert in Berlin "Global changeGeography". Berlin sei weltoffen, bunt und kein bisschen spießig, na ja, so ziemlich das Kontrastprogramm zur Kleinstadt Überlingen. "Egal, was man in Berlin auch treibt, keiner schaut dich schief an, alle lassen dich in Ruhe." Ob er für immer in Berlin bleiben möchte, weiß er noch nicht, beruflich hat er dort natürlich viel mehr Möglichkeiten, aber manchmal fehlt ihm diese gewisse Geborgenheit und Gemütlichkeit von Überlingen, wenn es außer dem Galgen auch kein anderes Lokal gebe für junge Leute.
Ein letztes Bier an alter Wirkungsstätte
Zu dem Song "Angels" von Robbie Williams brüllen alle im Chor laut mit, Gänsehautfeeling, man liegt sich in den Armen, trinkt Bier, viel Bier, freut sich lautstark über jeden Kumpel, den man schon lange nicht mehr gesehen hat. So kann die Weihnachts-Stimmung im Galgenstüble bezeichnet werden. Yannis Kohler hat 2012 in Überlingen Abitur gemacht, studiert jetzt Mathematik und Geschichte in Freiburg. Laura Grabelus ist inzwischen in München, wird Lehrerin für Englisch und Gemeinschaftskunde, findet die Stadt München zwar megacool, hat aber manchmal richtig Heimweh nach Überlingen und freut sich jedes Jahr an Weihnachten auf all' ihre Freunde und Freundinnen, und natürlich das gemeinsame Fest mit ihrer Familie. Max Heichele hat erst in diesem Jahr hier Abitur gemacht und im Januar geht es ab nach Villingen-Schwenningen. Er beginnt dort einen dualen Studiengang. Seine Freunde vermisst er schon heute, vor allem die Tage im Strandbad am See und so ist der Weihnachts-Abend in der Münsterstraße gewissermaßen einer Art Abschiedsveranstaltung.
Schwierig für die Daheimgebliebene
Wenn Kristina Turujlija über Überlingen spricht, dann mit einem gewissen Unterton in der Stimme. Schon schön hier, aber als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern habe sie auch schon Dinge erlebt, die weniger schön sind. Sie hatte große Mühe, in Überlingen eine bezahlbare und geeignete Wohnung zu finden, und ihr kroatischer Nachname sei bei der Wohnungssuche auch nicht gerade förderlich gewesen. Kristina Turujlija hat in Überlingen die Realschule absolviert, dann Floristin gelernt und arbeitet heute im Service in einem Hotel. Als Stadt für die Jugend kann Überlingen nicht bei ihr punkten, außer heute Abend, "da geht es so richtig ab", wie sie feststellt. Dominik Berk ist seit drei Jahren bei der Bundeswehr, Gebirgsjäger in Mittenwald. Dort kann er seine Hobbies, Klettern und Skifahren, quasi beruflich ausüben. Kameradschaft ist ihm wichtig und natürlich seine Freunde und Schulkameraden hier in Überlingen. Sascha Schweitzer ist gelernter Industriekaufmann, feiert hier im Galgen wie in jedem Jahr mit alten Schulfreunden und den Kumpels von der Ausbildung.