Ende 2022 hatte sich die Angeklagte vor dem Amtsgericht in Überlingen noch heftig gegen ein psychiatrisches Gutachten gewehrt. Jetzt wurde sie direkt vor der Verhandlung von einem Sachverständigen untersucht, weil die entsprechenden Termine nicht zustande gekommen waren. Vorgeworfen wurden ihr Körperverletzung, versuchte schwere Körperverletzung und Beleidigung. Nicht das erste Mal stand die Bewohnerin einer Notunterkunft im westlichen Bodenseekreis vor Gericht – die 70-Jährige ist vorbestraft.
Rund 20 Eintragungen finden sich im Bundeszentralregister wegen Diebstahl, Hausfriedensbruch, Beleidigung, Betrug, Sachbeschädigung und vorsätzlichen Fahrens mit einem unversicherten Kraftfahrzeug. Geldstrafen, aber auch Freiheitsstrafen hat die Seniorin schon verbüßt. Ihr Leben befindet sich seit vielen Jahren gesundheitlich und finanziell in einer Abwärtsspirale. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sprach von einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. „Es ist doch gelaufen, mein Leben“, sagte die Angeklagte vor Gericht und sprach wiederholt Todesgedanken aus: „Ich weiß nicht, was ich noch soll auf dieser Erde.“
Verteidiger hat Mühe mit der Angeklagten
Verhandelt wurden Taten aus dem Juni, Juli und Oktober 2022 innerhalb der Notunterkunft: ein „kräftiger Schlag“ auf den Arm einer Bewohnerin, der Versuch, eine weitere Bewohnerin in der Gemeinschaftsküche mit einer Karaffe zu verletzen sowie die fremdenfeindliche Beleidigung eines Bewohners, verlas der Staatsanwalt aus der Anklageschrift. Die 70-Jährige nahm angesichts der Vorwürfe – wie schon Ende 2022, als die Hauptverhandlung ausgesetzt wurde – eine Abwehrhaltung ein: „Eine Körperverletzung habe ich nicht begangen. Ende.“ Ob es mal zu Beleidigungen gekommen war, wusste sie nach eigenen Angaben nicht mehr. Wenn, dann nur „Stammtischgeschwätz“. Vor Gericht erhob die Frau durchweg ihre Stimme, ihr Pflichtverteidiger hatte Mühe mit ihr.
Zu ihrem Verhalten passten die Äußerungen des Sachverständigen. Der Facharzt erklärte: „Sie tut sich schwer, sich zu behaupten, ohne gleich Normen zu verletzen.“ In negativen Gefühlszuständen fühle sie sich provoziert und agiere dies „relativ ungehemmt nach außen“ aus. So komme es zu strafrechtlich relevanten Handlungen. Er attestierte ihr bei vorhandener Einsichtsfähigkeit für alle drei Taten eine „erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit“. Obwohl sie extrem unter ihrer Form der Schizophrenie leide, sei sie nicht gewillt, nicht in der Lage, Hilfe in Anspruch zu nehmen und zu kooperieren. In der Vergangenheit wurde sie wegen der Erkrankung behandelt – derzeit nicht. Versuche, sie unter die Obhut eines gesetzlichen Betreuers zu stellen, scheiterten. Stattdessen berichtete sie von der Unterstützung eines Sozialarbeiters und Beratungsstellen.
Vor Gericht wurden Aussagen der Opfer und Angehörigen gehört. „Sie hat Momente, in denen sie durchdreht“, sagte ein 54-Jähriger, der die Angeklagte nach eigenen Angaben gerade noch davon abhalten konnte, seine Ehefrau mit einer Kaffeekanne zu schlagen. „Ich habe die ganze Wut in ihrem Gesicht gesehen. Sie hat getobt und geschrien. Sie hält sich an keine Regeln.“ Der Mann, der ebenfalls in der Notunterkunft wohnt, verständigte damals, im Juli 2022, die Polizei. Seine 56-jährige Frau bestätigte deutlich aufgewühlt die Ausführungen zu dem Vorfall in der Gemeinschaftsküche. Das erste Opfer ist zwischenzeitlich verstorben. Ihre Äußerungen bei der Polizei las Richter Alexander von Kennel vor. Ihre 53-jährige Schwester konnte sich an einen Schlag im Juni 2022 nicht erinnern, wohl aber an Beschimpfungen.
Beschimpfungen an der Tagesordnung
Laut den Äußerungen aller sind diese in der Unterkunft, wo Küche, Bad und Waschmaschine geteilt werden müssen, an der Tagesordnung. Der Psychiater erläuterte: „Es sind viele Menschen, die sich versammeln, die psychisch beeinträchtigt sind, aber keine adäquate Behandlung in Anspruch nehmen.“ Hinzu kommt: „Es sind viele Menschen, die um wenige Ressourcen ringen.“ Die 70-jährige, einst gut verdienende Beschuldigte lebt heute von Grundsicherung. Dem Mediziner zufolge dreht die Frau sich im Kreis, was die eigenen Lebensumstände und gesundheitlichen Herausforderungen betrifft. Er empfahl einen weiteren Versuch der Behandlung sowie eine andere Wohnsituation. Die Chance sei auf jeden Fall da, dass sie dadurch ruhiger werde, sagte der Gutachter.
Der Pflichtverteidiger bat um die Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen. Dem kam Richter von Kennel nicht nach. Nur der Punkt Beleidigung wurde eingestellt, da das angeblich Gesagte in der Beweisaufnahme nicht nachweisbar gewesen war. Die Zeugenaussagen zu den körperlichen Angriffen wurden indes als glaubhaft gewertet. „Ich sehe schon Belastungseifer der Zeugen. Aber nicht soweit, dass man der Frau etwas in die Schuhe schieben wollte“, sagte der Richter. „Es passt vom Auftreten in das Verhalten der letzten Jahrzehnte.“ Er verurteilte die 70-Jährige zu einer Geldstrafe von 110 Tagessätzen à 15 Euro und richtete einen Appell an sie: „Sie müssen sich helfen lassen“ – hinsichtlich Betreuung und Gesundheitsfürsorge. Die neuerliche Geldstrafe passte der Frau allerdings gar nicht, „weil es mir im Vollzug besser ging als hier draußen. Da hatte ich eine eigene Toilette in der Zelle“. Ob sie das Urteil akzeptiert, blieb offen.