Mein erstes Walser-Buch las ich vor 53 Jahren: „Das Einhorn“. Ich war erstaunt darüber, wie viel Freizügigkeit und Modernität in meiner Bodenseeheimat möglich war. Inzwischen ist kein Autor in meinen Bücherregalen breiter vertreten als Martin Walser, er hat längst Goethe, Schiller, Brecht, Grass und Frisch überholt. Und er hat mich seither jährlich überrascht, verblüfft, geärgert, erfreut, meine Fantasie und meinen Intellekt beflügelt.
Wenn ich ihn für progressiv hielt, merkte ich, wie verwurzelt er war. Wenn ich glaubte, er sei ein Reaktionär, war er mir – schon in paar Mal – voraus. Und wenn ich ihn wirklich brauchte, war er hilfsbereit. Über keinen habe ich in meinem intellektuellen Leben mehr geredet und dabei meine Gedanken geschärft als über ihn.
„Dafür nannten wir ihn Patron“
Er war mein Patron und der Patron des literarischen Lebens meiner Heimat. Die Initiativen für das geistige Leben hierzulande sind vielfältig: Die Gründung des Literarischen Forums Oberschwaben 1967, die Initiative für eine literarische Zeitschrift in der alemannischen Region, der er den Namen gab: „Allmende“, die Erfindung des Sommertheaters des Stadttheaters Konstanz in Meersburg.
Die Etablierung einer „Gesprochenen Anthologie“ auf der Meersburg, die Förderung von Gesamtausgaben der Schriftsteller in Oberschwaben über die „Martin Walser Literaturstiftung“, die Hilfestellung für Autorinnen und Autoren auf der Suche nach Verlagen, Lesungen, Kontakten und so weiter: dafür nannten wir ihn den Patron.
„In Überlingen wurde er auch verhöhnt“
Er lebte mit seiner Frau Käthe seit 1957 in Friedrichshafen und seit 1968 in Nußdorf, hier wuchsen seine Töchter Franziska, Johanna, Alissa und Theresia auf, hier war er als Privatmensch präsent, hier wurde er freundlich gegrüßt, gelegentlich geehrt, aber auch verhöhnt. Er hat sich nie mit der betonierten Karikatur von Peter Lenk auf dem Landungsplatz abgefunden, der ihn als müden Reiter über dem Bodensee porträtierte.
Immerhin gab es im Faulen Pelz zum achtzigsten Geburtstag (2007) von Martin Walser eine Ausstellung zum Thema „Martin Walser und die Kunst“ und zum neunzigsten (2017) eine große Tagung mit Lesungen befreundeter Schriftstellerinnen und Schriftstelle sowie litreraturwissenschaftlichen Fachvorträgen.
„Nach Wasserburg kehrt er zurück“
Selten trat Martin Walser in Überlingen auf, aber es gab berühmte Ausnahmen: die Verleihung des Bodenseeliteraturpreises schon im Jahr 1967 (mit einer legendären Laudatio von Hermann Bausinger und einer wunderbaren Rede des Patrons über unsere alemannische Mundart), es gab Auftritte während der Landesliteraturtage 1997, die er dazu nutzte, andere Autoren ins Licht zu rücken, einer Urlesung von zwei Texten über den jiddischen Dichter Abramovitsch von Susanne Klingenstein und ihm selbst, einer Lesung im Begleitprogramm des Sommertheaters, als dieses noch stattfinden konnte, und einer letzten öffentlichen Lesung im vergangenen Jahr aus seinem „Traumbuch“ im Dorfgemeinschaftshaus Nußdorf.
Obwohl er hier viel unternommen hat und lange hier lebte, träumte er nie von Nußdorf oder Überlingen, sondern immer nur von Wasserburg, das er schon als Jugendlicher verlassen hatte. Dort hin kehrt er heute zurück. Dieser Anreger und Förderer der Literatur, Kultur und des Theaters, dieser wache Intellektuelle, dieser Erspürer von Zeitströmungen und dieser Menschenkenner fehlt nun.
„Danke für das halbe Jahrhundert“
Ich besuchte ihn zum ersten Mal für ein Interview, das in der ersten Nummer der „schelle“ („Zeitung für Überlingen und Umgebung“) im Februar 1980 erschien. Wir hatten nur zwei Tonbandkassetten dabei, das Interessanteste sagte er erst, als die Kassetten voll waren. Er war bereit, meinen Schülern auf ihre Fragen zu antworten, das war im „Löwen“ anfangs der achtziger Jahre. Als Martin Walser mich zum Leiter des Literarischen Forums Oberschwaben verschlug, nahm ich gerne an und leitete das Forum dreißig Jahre lang.
Noch in den letzten Monaten rief er mich gelegentlich an und schlug vor, ob wir nicht zusammen Dies oder Jenes unternehmen könnten. Manches kam noch zustandes. Jetzt werde ich meinen literarischen Weg ohne ihn weiter gehen müssen. Was für ein Verlust. Danke für das halbe Jahrhundert.