In Überlingen-Nußdorf gebe es „einen wunderbaren Friedhof, da würde ich es sofort aushalten“, sagte Martin Walser, als wir ihn zum 90. Geburtstag fragten, wo er einmal beerdigt werden möchte. Er vervollständigte den Satz: „Aber da wir von alters her ein Familiengrab in Wasserburg haben, gehe ich da halt wieder hin. Das Grab ist gekauft und wartet geduldig, bis ich komme.“ Die Zeit ist nun gekommen, Martin Walser wird in Wasserburg, wo er vor 96 Jahren geboren wurde, beerdigt.

Über Überlingen schrieb Walser nicht viel, und so lautete die Frage an ihn vor sechs Jahren, ob er denn ein Überlinger sei. Walser: „Ich bin ein Überlinger. Ich habe nirgends länger gelebt als hier in Nußdorf.“ Und welches Verhältnis hat er zu Überlingen? „Ich muss erst einmal sagen, dass wir das gefunden haben, 1968, hier in Nußdorf, direkt am See: Dass wir das riskiert haben, dass wir das geschafft haben und dass wir dann geblieben sind, dass ich hier mehr gearbeitet habe als nirgendwo sonst: Das alles besetzt mich vollkommen. Ich kann das gar nicht mit Eigenschaftswörtern dekorieren. Die Stadt ist mir, ist uns, das Vertrauteste, was wir als Stadt erlebt haben und es könnte nicht schöner sein.“
Die Überlinger selbst waren mit Walser gut vertraut. Es machte sie stolz, eine lebende Legende in der Nachbarschaft zu wissen. Wir lassen Weggefährten Walsers zu Wort kommen.
Die Friseurin
Friseurmeisterin Viola Schmidt war in Nußdorf für Martin Walser viele Jahre die erste Wahl, wenn es um den Haarschnitt ging. „Ich hatte zuvor schon Käthe Walser frisiert“, erinnert sie sich: „Dann schickte sie mir ihren Mann.“ Regelrecht „ehrfürchtig“ sei sie gewesen, sagt Schmidt. Dazu hatte eine kuriose Vorgeschichte beigetragen. „Als junge Friseurin war ich vom Bodensee nach Düsseldorf gekommen“, erzählt sie. „Eine Kundin hatte ein Buch vergessen und nicht mehr abgeholt. Es war ‚Seelenarbeit‘ von Martin Walser.“ Das habe sie verschlungen und es habe ihr das Heimweh an den See gelindert. „Daraufhin habe ich fast alle Bücher von ihm gelesen.“
Es sollte eine gute Voraussetzung für die „schönen Gespräche“ im Salon in Nußdorf Jahre später sein. Tabu waren für die Schere von Viola Schmidt allerdings die markanten Augenbrauen Walsers: „Da durfte ich auf keinen Fall ran. Das sah er als sein Markenzeichen an.“ Noch kurioser war der Anruf eines Mannes, der für seine Nichte, die Schriftstellerin werden wolle, gerne eine Locke von Martin Walser gehabt hätte. „Das merke doch niemand“, habe der beteuert, sagt Schmidt: „Doch das geht ja gar nicht.“
Die Buchhändlerin
„Martin Walser ist mir schon zur Schulzeit begegnet“, erinnert sich die Überlinger Buchhändlerin Cornelia Lenhardt. Im Leistungskurs Deutsch lasen sie „Seelenarbeit“. „Wir 18 Schüler bekamen 1979 das gebundene Buch von ihm geschenkt und konnten dann an einem Nachmittag mit ihm sprechen und uns darüber austauschen.“ Später als Buchhändlerin sei sie oft bei Lesungen mit Martin Walser gewesen. „Der springende Brunnen“ und „Ein liebender Mann“ seien ihre Lieblingsbücher.
Als Besitzerin einer Buchhandlung am Landungsplatz fragte sie bei Martin Walser nach, ob er Bücher signieren würde. „Und das hat er gerne gemacht. Zuletzt war ich dieses Frühjahr im Hause Walser. Es haben sich beim Bringen und Abholen der Bücher nette Gespräche mit Käthe und Johanna Walser bei einer Tasse Tee ergeben. Für mich schrieb und sprach Martin Walser eine wunderbare Sprache. Ich schätze seine Heimatverbundenheit und Liebe zum See, die aus vielen seiner Texte leuchtet. Martin Walser hat ein großartiges literarisches Werk hinterlassen.“
Der Karikaturist
Eine ganz besondere Beziehung zu Walser hatte der Bodmaner Bildhauer Peter Lenk, der den Schriftsteller nach dessen umstrittener Paulskirchenrede am Überlinger Landungsplatz in Anlehnung an Gustav Schwabs Sage als Reiter über den Bodensee karikierte, der sich auf dünnem Eis bewege. Lenk schreibt zum Tod von Martin Walser: „Der große Dichter Martin Walser ist tot. Mancher Nachruf erinnert an die Ballade ‚Lenore‘ von Gottfried August Bürger: ‚Und das Gesindel husch husch husch!/Kam hinten nachgeprasselt/Wie Wirbelwind am Haselbusch/Durch dürre Blätter rasselt‘.“
Walser hat mit dem Brunnen nie richtig Frieden geschlossen. Als wir ihn zu seinem 90. Geburtstag fragten, was er vom Lenk-Brunnen halte, antwortete Walser: „Ich halte das für einen ästhetischen Reinfall, weil ich glaube nicht, dass man sich in Plastik witzig ausdrücken kann.“
Der Elektriker
Seit dem Zuzug des Literaten nach Nußdorf im Jahr 1968 ging Karlheinz Kretz im Hause Walser ein und aus – zunächst vor allem als Elektriker, dann auch als Kommunalpolitiker und guter Bekannter. Relativ früh habe Martin Walser sich gewünscht, doch einen Fußweg am See entlang zu planen, erinnert sich Kretz, der selbst 43 Jahre lang Gemeinderat zunächst in Nußdorf, dann auch in Überlingen war. „Wir sollten die Nachbarn überzeugen, dabei mitzumachen“, habe er ihm bei einem Besuch eröffnet. „Doch es war abzusehen, dass das nicht klappt.“
Kretz: „Wir hatten einen guten Kontakt und wir waren privat auch bei Geburtstagen ab und zu dort.“ Walser sei sehr „feinfühlig“ gewesen. Als Überlingen im Jahr nach der Enthüllung der Lenk-Skulptur ein Geburtstagsfest für den Schriftsteller ausrichten wollte, habe er dies abgelehnt. Stattdessen habe dann der Musikverein Nußdorf einen Musikabend für ihn veranstaltet. Darüber habe er sich damals sehr gefreut. Ebenso wie über einen Beitrag über ihn im jüngsten Nußdorfer Geschichtsbuch.
Der Bauernsohn
Den gebürtigen Nußdorfer und heutigen Billafinger Ernst Beck verbindet der letzte öffentliche Auftritt des Schriftstellers im vergangenen November. Als dieser Becks Manuskript zu dessen Kindheits- und Jugenderinnerungen gelesen hatte, wollte er unbedingt ein Vorwort verfassen. Die erste persönliche Begegnung fand in den 1990er Jahren im Kreistag statt. „Walser las damals aus seinem biographischen Buch ‚Ein springender Brunnen‘“, erinnert sich Beck. „Da habe ich Feuer gefangen. Ich habe es anschließend mehrmals gelesen, da ich viel von meiner Kindheit wiederfand.“
Ihn habe immer „gewurmt“, sagt Beck, dass Nußdorf keine großartigen Gebäude oder Persönlichkeiten hatte. „Das war nun plötzlich anders und viele haben uns beneidet.“ Er habe Walsers Sprachkunst bewundert, doch „nie getraut, meinen Fuß über die Schwelle seines Hauses zu setzten“. Bis zum 90. Geburtstag, als er ihm wieder einmal Blumen brachte und Walser ihn zu einer „Hochstube“ eingeladen habe, um Seealemannisch zu sprechen. Beck: „Da trafen zwei Welten aufeinander: Der bedeutendste Schriftsteller und der Landwirt aus einfachen Verhältnissen.“
Der Oberbürgermeister
Jan Zeitler, Oberbürgermeister von Überlingen, wählt Worte für die ganze Stadt. „Überlingen nimmt tief bewegt Abschied von Martin Walser, einem der bekanntesten und größten Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur. Er galt als streitbar, wurde aber auch als ‚unerschütterlicher Analytiker der bundesrepublikanischen Gesellschaft‘ bezeichnet – und lebte bewusst und gerne in Überlingen. Egal was war, egal was sein wird – wir verlieren einen überragenden Jahrhundertautor, der fehlen wird.“
In seiner Eigenschaft als OB habe er aber auch einige persönliche Begegnungen mit Walser haben dürfen: „Wir hatten unsere Augenblicke – und ich bin mir ganz sicher, er wollte Eines: Uns zum Nachdenken anregen, immer wieder aufs Neue! Tief beeindruckt von seinem Lebenswerk, das bleiben wird, verabschieden wir uns von Martin Walser.“
Die Literatin
„Aus Liebe schreiben, nicht über sie, das war Martin Walsers Credo.“ Dodo Wartmann, Vorsitzende des Linzgau Literatur Vereins Lilive, schreibt nach Walsers Tod: „Und so bildeten Leben, Literatur und die Liebe eine Einheit und durchzogen sein Lebenswerk wie einen roten Faden. Die Antihelden seiner Prosa umfasste er in diesem Sinne und bot ihnen mit literarischer Zärtlichkeit eine Bühne für ihr Scheitern.
Die tiefe Melancholie über die tragische Absurdität des Daseins, verbunden mit Mut, Hoffnung und Frühlingsglauben lässt seine Gestalten zutiefst menschlich erscheinen, was den Autor spiegelt. Martin Walser war ein großer Schriftsteller. An das ‚war‘ wird man sich erst noch gewöhnen müssen.“