Sie hätte Domkapellmeisterin von Speyer werden können. Oder einen ähnlichen Posten in Stuttgart, Eichstätt oder Bamberg haben können. Doch Melanie Jäger-Waldau ist geblieben. In Überlingen. Denn hier hat ihre Seele ein Zuhause gefunden, wie sie sagt. Und das schon vor 30 Jahren. In jenem Moment, als sie zum ersten Mal, als 24-Jährige, das Überlinger Münster betrat.
An diesem Tag im Jahr 1994 spielt Melanie Jäger-Waldaus damaliger Orgellehrer ein Orgelkonzert im Überlinger Münster. Er hört, dass die Stelle des Münsterkantors ausgeschrieben ist und denkt an seine Schülerin. „Ich konnte mich schon im Studium nicht zwischen Orgel und Chor entscheiden, deshalb habe ich einfach beides intensiv gemacht“, sagt sie. Und genau deshalb findet ihr Orgellehrer, die Stelle der Münsterkantorin sei doch genau richtig für sie. Dann könnte sie sich in beiden Bereichen austoben. „Aber ich war noch nicht ganz fertig, hatte noch kein Diplom“, blickt Melanie Jäger-Waldau zurück. Trotzdem lässt sie die Sache nicht los. Melanie Jäger-Waldau schreibt ihre Bewerbung und sendet ein Empfehlungsschreiben mit nach in Überlingen. „Die mussten direkt verschickt werden, weil der Bewerbungsschluss kurz bevorstand. Das hätte sonst nicht mehr gereicht.“ Zu ihrer Überraschung wird sie eingeladen.
Kirchenmusik war eine Männerdomäne
Wie sie später erfährt, will der Diözesanmusikdirektor sie einfach mal kennenlernen. Er ist neugierig ob der guten Zeugnisse und der hervorragenden Empfehlungen. Der Plan: Die junge Frau in einer Bewerbungsrunde mitlaufen lassen. Doch Melanie Jäger-Waldau überzeugt so sehr, dass sie auch in der nächsten und übernächsten Runde dabei ist und sich am Ende gegen 30 Bewerber durchsetzt.
1994 tritt sie ihre Stelle im Überlinger Münster an. Und wird mit offenen Armen empfangen. Von einigen zumindest. „Aber es gab auch Anfeindungen und Menschen, die mir Steine in den Weg legten. Das ist ja eine Männerdomäne, da hatte ich es als junge Frau nicht leicht.“ Doch Melanie Jäger-Waldau setzt sich durch, indem sie einfach mit ihrer Begeisterung, ihrem Tun, ihrer Musik überzeugt.
Warum eine Kleinstadt eine Jugendkantorei hat
Besonders nimmt sie sich der Jugend an. Etabliert neben den liturgischen Auftritten – Gottesdienste, Nikolausandachten, Schwedenprozessionen – Kinderkonzerte mit klassischer Musik, Chorfahrten und Musicals. „Wir haben ganz klein angefangen. Und inzwischen ist das so groß geworden. Die Kollegen sagen immer: ‚Wie kannst du in dieser kleinen Stadt eine Jugendkantorei mit 150 Kindern haben‘?“ Ihre Arbeit macht Melanie Jäger-Waldau glücklich. Sie ist wie ein Vitamin. „Ich glaube, meine Begeisterung überträgt sich auf die Kinder und Jugendlichen“, sagt sie.
Ihr schönstes, ihr bewegendstes Erlebnis in den 30 Jahren? „Das kann ich nicht sagen. Da sind so viele Momente. Aber besonders bewegend war vielleicht das: Als wir ‚Noahs Flut‘ von Benjamin Britten aufführen und ein mitwirkendes Kind, dessen Mutter kurz zuvor gestorben war, ausgerechnet die Taube spielte, die die Hoffnung bringt. Da hatten wir alle Tränen in den Augen.“

Mit Musik die Menschen berühren
Viele Kinder, sagt Melanie Jäger-Waldau, hätten über die Jahre Trost und Halt in der Jugendkantorei gefunden. Das macht die zweifache Mutter glücklich. Und glücklich macht es sie auch, wenn es ihr gelingt, die Menschen mit ihrer Musik zu berühren.
„Es gab eine Zeit lang eine Frau, die kam jeden Sonntag mit dem Zug aus Ulm, weil sie mich am Sonntag spielen hören wollte. Das sind so Elemente, da denkt man: ‚Wow!‘ Und es kommt immer wieder vor, dass Menschen nach Oratorien zu mir kommen und einfach weinen, weil ich sie derart beschenkt habe“, sagt Melanie Jäger-Waldau und fährt fort: „Ich scheine abseits aller Professionalität eine Gabe zu haben, eine emotionale Seite, die ich nicht steuern kann und mit der ich die Menschen berühre.
Viele Menschen sagen, dass ich sie besonders berühre, wenn ich improvisiere.“ So sind Melanie Jäger-Waldaus Improvisationen nach der Silvester-Schlusspredigt oder an Fastnacht inzwischen Kult. „Und genau das versuche ich auch mit den Kindern: Die Musik über die Emotionen zu vermitteln.“ Emotionen, die auch das Münster in ihr weckt: „Ich habe meine Seele hier, die fühlt sich einfach hier zu Hause. Seit 30 Jahren. Als ich es zum ersten Mal betreten habe, dachte ich: ‚Wow!‘ Ich konnte mich auch noch nicht daran sattsehen und -fühlen.“