Ironie des Schicksals: Während einer der bekanntesten deutschen Meteorologen, Sven Plöger, im Überlingen Pfarrzentrum über die Zunahme von Starkregen referiert, bricht am Abend des 5. September über der Stadt ein Unwetter herein. Die Regenmassen am Donnerstagabend sind so gewaltig, dass innerhalb kürzester Zeit Keller und Garagen, Geschäftshäuser und Wohnungen volllaufen.
Laut Feuerwehr-Kommandant Ludwig Ehing ging der erste Alarm gegen 20 Uhr im Teilort Nesselwang herunter, ab 20.30 Uhr im Minutentakt dann im Stadtgebiet. Schwerpunkte seien der Burgberg und die Altstadt gewesen.
Bis Mitternacht 85 Einsätze
Ein paar Stunden später, es ist Mitternacht, spricht Feuerwehr-Sprecher Daniel Dillmann von bis dahin 85 Einsätzen. Im Laufe der Nacht sei mit weiteren Anrufen zu rechnen, sodass es gut rund 100 Einsätze in einer Nacht werden könnten. Verglichen mit dem Hochwasser in den Pfingstferien 2019 sei die Besonderheit jetzt, so Ehing, dass nahezu das gesamte Stadtgebiet betroffen ist, während damals ein Schwerpunkt im Bereich des Busbahnhofs lag.
Videos in sozialen Netzwerken zeigen an diesem Donnerstag, 5. September, wie der Nellenbach zu einem reißenden Strom anschwillt und die Wiestorstraße einer Wasserstraße gleicht. Das Wasser bahnt sich einen Weg über die Franziskanerstraße und die Spitalgasse in die Pfarrhofgasse. Beim Eiscafé Cristallo weden die schweren Holzbänke aufgeschwemmt und gleiten meterweit über die Straße. Sie wiegen laut Café-Betreiber Marco Garau 400 Kilogramm und wurden wie Papierschiffchen davongeschwemmt.
Auto fährt in geöffneten Gully
Marco Garau hebt in dieser Unwetter-Nacht nach eigenen Angaben mit einem Eisenhaken Schachtdeckel aus ihrer Verankerung, damit das Wasser besser abfließen könne. Er sagt, die Stadt habe ihm den Haken schon länger zur Verfügung gestellt, weil er regelmäßig damit beschäftigt sei, bei Starkregen für den nötigen Abfluss zu sorgen. Nun sieht er sich mit dem Vorwurf konfrontiert, dass ein Auto in den geöffneten Gully gefahren sei und sich jemand verletzt habe.

Schuhhändlerin sieht Versäumnis bei der Stadt
Seine Nachbarin, Heide Meißner, Inhaberin vom Schuhstudio H in der Pfarrhofgasse, macht der Stadtverwaltung den Vorwurf, dass der Werkhof die Schachtdeckel nicht regelmäßiger reinige, wodurch diese verstopften. Sie habe immer wieder darum gebeten, doch das Ergebnis könne man nach dem Regen von Donnerstagabend nun sehen. „Das Wasser stand einen Meter hoch in meinem Laden, es ist eine Katastrophe.“ Ein Großteil ihrer Ware sei zerstört.

Zugleich zeigt sich Meißner ergriffen von der einsetzenden Nachbarschaftshilfe. Sowohl Café-Betreiber Garau als auch Stefan Mayer vom früheren Waffengeschäft Mayer und Elke Renker vom benachbarten Weinhaus helfen ihr im ersten Chaos und schöpfen Wasser aus dem vollgelaufenen Warenlager, bevor die Feuerwehr mit einer Pumpe anrückt.
OB Zeitler zum Wassermanagement
Oberbürgermeister Jan Zeitler verschafft sich einen Überblick über die zahlreichen Einsätze und dankt den freiwilligen Helferinnen und Helfern der Feuerwehr. Auf die Frage, ob etwas schiefläuft und Überlingen einfach nicht mehr in der Lage ist, solche Wassermassen aufzunehmen (Stichwort Schwammstadt), sagt Zeitler: „Wir sind permanent dabei, die Kanäle aufzudimensionieren, jüngst in der Mühlbachstraße. So etwas kann nur nach und nach passieren. Ich glaube, man muss anerkennen, dass wir zunehmend Starkregenereignisse haben werden und wir sukzessive, Straße für Straße, durch eine Aufdimensionierung der Kanäle uns darauf vorbereiten. Aber letzten Endes, wenn es auf einmal kommt, hast Du keine Chance in dem Augenblick.“

Auf den Vorwurf der Anlieger in der Pfarrhofgasse, sie müssten selbst regelmäßig den Schacht reinigen, sagt Zeitler: „Ich kenne den Sachverhalt nicht. Aber ich weiß, dass wir regelmäßig Kanalreinigungen vornehmen.“ Wenn irgendwo ein Mangel festgestellt werde, könne man sich ans Tiefbauamt wenden. „Aber wir haben regelmäßige Wartungspläne, dass die Kanäle gespült werden.“
90 Frauen und Männer freiwillig im Einsatz
Nach allem, was bisher bekannt ist, wird bis auf den von Cristallo-Betreiber Marco Gerau geschilderten Fall niemand verletzt. Über entstandene Schäden gibt es noch keinen Überblick. Im Einsatz sind 90 Frauen und Männer der Freiwilligen Feuerwehr, aus den Abteilungen Stadt, Ausrückebereich West, Nußdorf und Bambergen. Ihre Pumpen sind in der ganzen Stadt die ganze Nacht lang zu hören, in allen Straßen blinkt das Blaulicht. Die Einsatzkräfte stehen selbst knöcheltief oder noch weiter im Wasser, schwitzen in ihrer Einsatzkleidung und kümmern sich auch um kleinere Fälle, wie den einer Autofahrerin, deren Wagen im Parkhaus Post mit Wasser vollgelaufen ist. Nach der Befreiung des Autos saugt ein Feuerwehrmann das Wasser aus ihrem Fahrzeug, sodass sie die Fahrt fortsetzen konnte. „Ihr seid der Hammer“, sagt die Frau.
Keine großen Schäden bislang bekannt
Der Starkregen hat in einigen Parkanlagen im Stadtgebiet zu kleineren Rutschungen und Ausspülungen geführt, teilt die Stadt am Freitagnachmittag mit, informiert Pressesprecherin Miriam Lara Robertus. Vorsorglich habe die Stadt den Blattergraben gesperrt, wo Ausspülungen auf den Wegen Stolperfallen verursacht hätten. Der Bauhof werde umgehend mit der Ausbesserung beginnen. Bislang seien keine Schadensmeldungen seitens der Bevölkerung eingegangen.
Verwaltung äußert sich zur Kritik der Schuhhändlerin
Die Stadt nehme die Instandhaltung der Kanäle sehr ernst, heißt es in der Pressemitteilung weiter. Sie sorge durch regelmäßige Reinigungen „für eine ordnungsgemäße Funktion des Kanalsystems“. So werde der Ufersammler unter der Promenade zweimal jährlich von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Betriebshofs gesäubert, wobei auch Schlamm und Kies entfernt werden. Auch die Straßeneinläufe reinige der Betriebshof im Frühling und Herbst. „Besonders in Bereichen mit Steigungen werden diese nach jedem Regen kontrolliert und bei Bedarf sofort gesäubert.“ Bei dem Starkregen am Donnerstagabend seien viele Kanäle bis zur Kapazitätsgrenze gefüllt und in manchen Bereichen auch überlastet gewesen. Das habe zur Wasseransammlung in den Straßen geführt. Die Stadt habe bereits Planungsleistungen für ein umfassendes Starkregenmanagement in Auftrag gegeben. Die Verwaltung werde die geplanten Maßnahmen im Oktober oder November dem Gemeinderat präsentieren.