Überlingen Das Gymnasium hat am 9. Mai den Europatag gefeiert. Nach einem gemeinsamen internationalen Frühstück erkundeten alle Klassen eine Europa-Ausstellung der zehnten Jahrgangsstufe. Es folgte ein gemeinsamer Festakt. Im Februar war das Gymnasium als Europaschule Baden-Württemberg ausgezeichnet worden, eine von 50 im Land. „80 Jahre Frieden – wie kommt das?“ Diese Frage hat unlängst eine Siebtklässlerin gestellt. Sie ließ Schulleiter Hans Weber seither nicht los. Beim Festakt zum Europatag sprach er sie noch einmal an. Für ihn steht die Frage der Schülerin exemplarisch für eine wünschenswerte Art der Auseinandersetzung mit einem Thema: eigenständig, nachdenklich, aus der Mitte der Schüler heraus. Die Antwort beginnt mit dem Datum. Am 9. Mai 1950, weite Teile Europas lagen noch in Trümmern, schlug der französische Außenminister Robert Schuman vor, die Kohle- und Stahlproduktion Europas gemeinsam zu verwalten. Diese „Schuman-Erklärung“ war der erste Schritt auf dem Weg zur Europäischen Union. Aus einem gemeinsamen Wirtschaftsprojekt entstand ein politisches Friedensmodell, das nun jedes Jahr am Europatag gewürdigt wird.
Die Überlinger Zehntklässler sollten Europa jetzt mit eigenen Augen sehen – und aus eigener Initiative anderen veranschaulichen, was sie gesehen haben. „Die Ausstellung zeigt, was junge Menschen aus Zeit machen können“, sagt Weber mit Blick auf die Arbeiten. Die Schüler hatten ihre Themen selbst gewählt, recherchiert, gestaltet und präsentiert. Die Lehrkräfte gaben Impulse und begleiteten – den Kern leisteten die Jugendlichen. Zum Beispiel beschäftigten sie sich mit Norwegen: niedrige Kriminalität, hohe Lebensqualität, ganz oben im Glücksindex – und in der Frage des EU-Beitritts gespalten. Andere Beiträge behandelten den Rechtsruck in Europa, Frauenrechte, Glücksspiel, Straßenkunst oder luden per Schul-iPad zum Europa-Quiz ein.
Das der Ausstellung zugrunde liegende Konzept heißt „Deeper Learning“ – ein pädagogischer Ansatz, bei dem Schüler sich Wissen nicht nur aneignen. Sie vertiefen es und wenden es an, sodass sich Gelerntes verankert. Themenrelevanz erkennen, etwas Eigenes erschaffen, selbstbestimmt handeln – genau das sei hier geschehen. Weber: „Die Schüler wurden zu Entdeckern.“
Für das Gymnasium war der 9. Mai auch deshalb besonders, weil die Schule seit Kurzem zu den 50 neuen Europaschulen in Baden-Württemberg gehört. In Stuttgart hatte Kultusministerin Theresa Schopper einer Delegation aus Überlingen die mit der Auszeichnung verbundene Plakette überreicht: Stefanie Metzinger (Koordinatorin), Sebastian Fritz (Abteilungsleiter) und Schulleiter Weber nahmen das blaue Aushängeschild mit gelben Sternen entgegen. Nun ziert es den Eingang des Gymnasiums. Das Überlinger Kollegium versteht die Auszeichnung als Auftrag: Europäische Themen sollen nicht nur in den Fremdsprachen, sondern auch fächerübergreifend im Unterricht und Schulleben eine zentrale Rolle spielen. Weber will den Blick gezielt nach Osteuropa ausweiten, ein bislang vernachlässigter Aspekt in einer Schule, die sich längst international ausgerichtet hat.
Raphael Wiedemer-Steidinger, der die Stadt Überlingen beim Festakt vertrat, sprach von einem „besonderen Tag“ und einem sichtbaren Zeichen des Engagements. Am Beispiel seiner eigenen Kinder habe er erlebt, wie überrascht Austauschschüler aus Übersee den selbstverständlich grenzüberschreitenden Alltag im Dreiländereck erleben – eine europäische Errungenschaft. Solche Errungenschaften nicht als Normalität wahrzunehmen, sondern sie bewusst wertzuschätzen, dafür wollen Weber und das Kollegium ihre Schützlinge sensibilisieren. Für die im friedlichen Europa geborene Generation liegen Weltkriegstrümmer und Robert Schuman so lange zurück, dass der historische Zusammenhang längst nicht mehr offensichtlich ist. Umso wichtiger ist das Bewusstsein, dass Frieden, Reisefreiheit sowie demokratische Teilhabe gemeinsam erkämpft worden sind – und dies keineswegs dauerhaft garantiert.
Detlev Maaß vom Europe-Direct-Zentrum Friedrichshafen hat gerade erst in Paris einen alten Freund besucht – „vor 80 Jahren wären wir uns im Schützengraben begegnet, nicht bei einem Glas Wein“. Europa sei heute von vielen Seiten bedroht. „Wir haben das größte demokratische Parlament der Welt. Das gefällt Diktatoren nicht.“ Mächtigen Tech-Konzernen missfalle, dass die EU sie mit dem Digital Services Act zu Transparenz zwingen und ihre Bürger schützen will. In Überlingen endete der Europatag mit einer Feierstunde, die das Schulorchester (Leitung: Yen-Lin Liu) mit der Europahymne eröffnete. Maaß: „Ihr macht das großartig. Hier fängt Europa an.“ Nicht in Brüssel oder Straßburg, sondern dort, wo junge Menschen sich mit der Idee Europa auseinandersetzen – eigenständig, kritisch, kreativ.