Es ist der Albtraum aller Eltern: Sie werden von der Polizei kontaktiert, weil das eigene Kind angeblich in akuten Schwierigkeiten steckt. Ellen und Volker Nies aus Überlingen ist genau das passiert. „Meine Frau war dran“, sagt Volker Nies. Eine Anruferin habe sich ihr gegenüber als Kommissarin vorgestellt und gesagt: „Ich habe Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen.“ Darauf entspann sich eine schreckliche Geschichte.

Die Betrügerin gab bei dem Anruf vor, dass die erwachsene Tochter mit ihrem Auto über eine rote Ampel gefahren sei. Dabei habe sie eine Frau und deren zwei Kinder angefahren. Die selbst ernannte Polizistin erklärte, dass die Tochter Fahrerflucht begangen habe und die verletzte Frau noch am Unfallort verstorben sei. Begleitet wurde der Anruf von einer Frauenstimme, die im Hintergrund schrie und weinte. „Ich wollte das nicht. Ich habe sie nicht gesehen.“ Immer wieder dieselben Worte.

Der Anruf war fingiert, ein sogenannter Schockanruf. Volker Nies vermutet, dass es sich bei den Rufen im Hintergrund um eine Tonbandaufnahme handelte.

Polizei überbringt solche Mitteilungen nicht telefonisch

Oliver Weißflog, Pressesprecher aus dem Polizeipräsidium Ravensburg, sagt: „Grundsätzlich werden derartig schwerwiegende Mitteilungen nicht am Telefon überbracht. In aller Regel spricht eine Polizeistreife persönlich bei den Betroffenen vor.“ Sofern im Ausnahmefall Verständigungen per Telefon geschehen, „dann sind damit keinesfalls finanzielle Forderungen oder Ähnliches verbunden. Im Regelfall werden Angehörige beispielsweise lediglich informiert, dass jemand einen Unfall gehabt hat und nun im Krankenhaus X liegt“, erläutert Weißflog.

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Volker Nies erkannte die Aufregung seiner Ehefrau. „Ich hatte einen Moment Sorge, dass sie zusammenbricht.“ Deshalb übernahm er das Telefonat. Die Betrügerin versuchte, Daten zu erfragen – von der Tochter, von Volker Nies. Die Frau, die laut dem 80-Jährigen akzentfrei Deutsch sprach und einen „absolut sauberen“ Gesprächsaufbau hatte, wollte ihn unter Druck setzen. „Alles, was ich Ihnen jetzt sage, dürfen Sie nicht weitersagen, sonst drohen Ihnen bis zu fünf Jahre Gefängnis.“ Als Grund für die Geheimhaltung gab sie die laufenden Ermittlungen an. Volker Nies antwortete: „Ich möchte mit meiner Tochter sprechen.“ Die Anruferin entgegnete: „Das geht momentan nicht. Es ist ein Psychologe bei ihr.“

Alles spielt sich in wenigen Momenten am Telefon ab

Dann hieß es, die Tochter werde einem Haftrichter vorgeführt. „Sie hat Fahrerflucht begangen. Das läuft auf Untersuchungshaft hinaus.“ Sie habe ihren Anwalt informiert – eigentlich hat sie eine Anwältin. An diesem Punkt äußerte die falsche Polizeibeamtin die Geldforderung. Gegen eine Kaution von 94.000 Euro komme die Tochter auf freien Fuß. All dies spielte sich am Telefon innerhalb von Momenten ab. Volker Nies zwang sich zu klaren Gedanken. „Die Sache kam mir seltsam vor“, erzählt der Überlinger. Nies erklärte der Betrügerin, einige Dinge prüfen zu wollen. Die Frau sagte, er solle sie unter der 110 zurückrufen, rief innerhalb einer Minute aber selbst wieder an, um zu fragen, ob er alles geklärt habe.

Parallel dazu telefonierte Nies‘ Frau mit der Tochter. Ihr ging es gut. Nichts von wegen Horrorunfall. „Der Parallelanruf, dass man sich erkundigt, ist sehr wichtig“, meint Volker Nies. Entweder bei der betreffenden Person selbst oder einer dritten Person. Das Gespräch mit der vermeintlichen Kommissarin war beendet, als Nies sagte: „Bleiben Sie bitte in der Leitung. Ich nehme das Gespräch auf und rufe parallel die Polizei an.“ Die Frau beschimpfte den 80-Jährigen und legte auf. Nies meldete den Vorfall dem Polizeirevier in Überlingen.

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Der Senior ist ob der Kaltherzigkeit der Betrugsmasche schockiert: „Ich bin entsetzt, dass man ältere Menschen so über den Tisch zieht. Die Frau war souverän. Man hatte den Eindruck, dass sie die Situation voll im Griff hat – auch fachlich. Sie muss sich ja auf alles Mögliche gefasst machen.“ Polizeisprecher Oliver Weißflog sagt: „Die Gesprächsführer sind in aller Regel so geübt und treten so überzeugend auf, dass selbst kritische Mitmenschen mitunter schon Opfer der Masche geworden sind, obwohl sie die Vorgehensweise eigentlich kannten.“

Polizei schlägt bei fingierten Geldübergaben zu

Volker Nies macht sich Gedanken, wie seine Familie ausgewählt wurde und wie er noch hätte reagieren können. Die Callcenter, aus denen die Anrufe getätigt werden, befinden sich im Ausland. Zu einem persönlichen Kontakt kommt es nur bei einer Geldübergabe. Oliver Weißflog berichtet, dass die Polizei schon öfter Erfolge bei fingierten Geldübergaben habe erzielen können, „nachdem das vermeintliche Opfer mitgespielt und parallel die echte Polizei alarmiert hatte“. Erwartet werde das von niemandem. Wichtig sei in jedem Fall, die Polizei unmittelbar mit ins Boot zu nehmen, um erstens sich selbst dadurch zu schützen und zweitens den Beamten die Möglichkeit zu geben, Vorbereitungen für Einsatzmaßnahmen treffen zu können.

Nies hält Schockanrufe für „lebensgefährlich“. Einerseits sieht er den finanziellen Schaden, andererseits die gesundheitlichen Gefahren. „Am glücklichsten bin ich, dass meiner Frau nichts passiert ist“, sagt Nies. Er strebt Vorkehrungen an, dass sowas nicht erneut passiert. Etwa, den Telefonbuch-Eintrag löschen zu lassen.