Es sind ungewohnte Szenen, die sich am Donnerstag in der Mühlenstraße abspielen. Eine gelbe Arbeitsbühne steht auf dem Bürgersteig, daneben ein großer Container. Passanten bleiben stehen und legen beobachtend den Kopf in den Nacken. Drei Arbeiter in oranger Warnkleidung regeln den Verkehr, während sich ihre Kollegen in zwei Meter Höhe Ast für Ast durch die Baumkrone des Spitzahorns arbeiten. Alle paar Minuten fällt von oben ein Stück Ast in den abgesperrten Bereich. Warum wird einer der schönsten Bäume in der Stadt gefällt?
Bei dem Baum handelt es sich um einen Spitzahorn, auch spitzblättriger Ahorn genannt. Zurzeit sind seine Äste kahl, im Frühjahr wachsen langsam die charakteristischen handförmigen Blätter mit spitzen Zacken. Nicht so bei diesem Exemplar in der Mühlenstraße. Er muss gefällt werden, aus Sicherheitsgründen. Von der Straße aus sieht der Spitzahorn kerngesund aus, doch auf der Rückseite offenbart sich ein großes Stück kahler Rinde. „Dort, wo die Rinde abblättert, ist der Baum tot“, sagt Fachagrarwirt Marcus Pietruschinski vom Baumpflege Team Bodensee und zeigt auf die kahle Stelle.
Erhöhte Gefahr für Fußgänger und Autofahrer
Durch seine Lage an der Straße stellt der etwa 130 Jahre alte Baum eine Gefahr dar. Er wächst direkt am Gehweg, erhöht auf einer Mauer. Durch das Absterben könnten jederzeit Baumteile auf Straße und Gehweg brechen. „Im schlimmsten Fall stürzt der ganze Baum aufgrund der zersetzten Wurzeln um“, sagt Marcus Pietruschinski. „Es ist allerhöchste Eisenbahn, dass wir reagieren.“ Das habe auch das zuständige Grünflächenamt der Stadt Überlingen bestätigt. „Im Wald würde der Baum zusammenbrechen und irgendwann für neues Leben sorgen“, schildert er. „Hier ist das keine Option.“

Grund für das Absterben des alten Spitzahorns ist der sogenannte Goldgelbe Hallimasch. „Der Hallimasch ist ein Weißfäulepilz und ernährt sich von den Holzbestandteilen“, erklärt Marcus Pietruschinski. Von den Wurzeln ausgehend arbeitet sich der Pilz langsam durch den Stamm bis in die Baumkrone aus. „Hier haben wir den Pilz schon in acht Meter Höhe gefunden“, sagt der Baumexperte. „Er ist also schon weit fortgeschritten.“ Eine Chance zur Rettung oder Erhaltung gibt es nicht.
Bäume werden schwächer und anfälliger
Normaler seien Pilze ungefährlich und sogar wichtig für den Lebensraum. Problematisch wird es erst, wenn sie sich in geschwächte Bäume einnisten, so Marcus Pietruschinski. Grund dafür seien die heißen und trockenen Sommer der letzten Jahre. „Bäume wie dieser sind dadurch deutlich geschwächt und anfällig für Krankheiten“, erklärt Pietruschinski. Dem Baumexperten fällt es sichtlich schwer, einen so alten und heimischen Baum fällen zu müssen. Aber es gibt keine Alternative, der Pilzbefall und das damit verbundene Absterben kann nicht aufgehalten werden.
Klimabedingter Wassermangel nimmt zu
So ein Fall wie in der Mühlenstraße ist nur der Anfang. „Ich sehe immer mehr geschwächte Bäume“, stellt Marcus Pietruschinski fest. „Wir werden viele Zeitzeugen verlieren.“ Klimabedingter Wassermangel und heiße Sommer werden den Bäumen in Zukunft immer mehr zusetzen. Die Anzahl an angreifbaren Bäumen wird zunehmen, das Gleiche gilt für die Ausbreitung der Pilze und anderen Krankheiten. „Wir müssen jetzt mit neuen Bäumen in die Zukunft gehen, damit wir in 40 Jahren noch genügend haben“, sagt der Fachagrarwirt.

Ein Ersatzbaum ist geplant
„Das ist was, was niemand gerne will“, kommentiert Marcus Pietruschinski die fortschreitende Arbeit seiner Kollegen. „Ihn hat es jetzt leider erwischt.“ Der Spitzahorn steht auf einem Privatgrundstück und gehört dort seit 130 Jahren zum Grundstück und zum Haus. Dem Eigentümer sei buchstäblich die Kinnlade heruntergefallen, als er von den Plänen gehört hat, erzählt Pietruschinski. „Ihm liegt der Baum ziemlich am Herzen.“ Eine gute Nachricht gibt es trotzdem: Im Rahmen der städtischen Baumschutzsatzung wird in Zukunft mindestens ein Baum als Ersatz für den Spitzahorn gepflanzt.