Mit einem Rollator schleppt sich der Angeklagte in den Gerichtssaal im Waldshut-Tiengener Amtsgericht. An dem Rollator hängt eine Einkaufstüte vom Mix Markt, einem Supermarkt für osteuropäische Lebensmittel. Der Deutsche mit kasachischen Wurzeln ist für die Gerichtsverhandlung auf eine russische Dolmetscherin angewiesen.
Dem Gericht ist der im Kreis Waldshut wohnhafte Rentner kein Unbekannter: Acht Vorstrafen sind zwischen 2002 und 2018 im Polizeiregister erfasst, darunter Verurteilungen wegen Beleidigung, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Widerstand gegen die Polizei, Fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr, Diebstahl, Körperverletzung und vorsätzlichem Vollrausch. Der heute 66-Jährige wurde bislang zu Geldstrafen und einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.
Bei dieser Gerichtsverhandlung wurde ihm nun Freiheitsberaubung, Körperverletzung, Widerstand gegen und Beleidigung von Vollstreckungsbeamten zur Last gelegt.
Was war passiert?
Hintergrund ist die Beziehung des Angeklagten zu einer jungen weißrussischen Frau. Ob diese sexueller Natur war (das behauptet er) oder rein freundschaftlich (das behauptet sie), ist streitbar. Jedenfalls lernten sie sich vor einigen Jahren im Lidl kennen, als der Angeklagte Waschpulver verschüttete und sie ihm beim Aufräumen half.
So beschreibt das Opfer die Geschehnisse
„Ich hatte mich damals frisch von meinem Mann geschieden. Der Angeklagte war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und wir freundeten uns an“, gibt die als Zeugin geladene 34-Jährige mithilfe der Dolmetscherin zu verstehen. Um ihre kleine Tochter treffen zu können, habe sie regelmäßig die Wohnung des Angeklagten genutzt. Zudem habe sie oft beim ihm übernachtet, wenn sie wegen einer späten Schicht bei der Arbeit nicht mehr mit dem Bus nach Hause gehen konnte.
Eines Abends im vergangenen Dezember sei sie dann wieder in seine Wohnung gekommen. „Da standen schon leere Wodka-Flaschen auf dem Tisch“, erklärte sie dem Richter. Mit dem Angeklagten habe sie zunächst ein normales Gespräch geführt, dann sei er aggressiv geworden und habe sie durch die Wohnung gejagt. Er habe ihr unter anderem gedroht, dass seine Kontakte zur weißrussischen Mafia sie umbringen werden würden. Die Wohnungstür hätte er abgeschlossen, den Schlüssel versteckt. Sie sei von Raum zu Raum geflüchtet, nur einmal habe er es geschafft, ihr einen Schlag auf die Nase zu verpassen. Erst als der schwerfällige Mann sich kurz zum Ausruhen auf ein Sofa habe setzen müssen, hätte sie per SMS eine Freundin und damit indirekt die Polizei kontaktieren können.
Was nach Eintreffen der Polizei geschah
Die darauf folgenden Szenen werden vor Gericht von drei Polizisten übereinstimmend bestätigt: Als die Polizei an der Wohnungstür klopfte und sich zu verstehen gab, machte der Angeklagte keine Anstalten, diese zu öffnen. Stattdessen beleidigte er die Beamten als „Arschlöcher und „Scheißbullen“.
Nicht ganz eindeutig wurde bei der Beweisaufnahme, ob der Angeklagte die Tür nicht öffnen wollte oder konnte, weil er den Wohnungsschlüssel verlegt hatte. Ein Polizist konnte sich dann jedoch gegen den Widerstand des Angeklagten, der ihm mit der Faust auf die Hand schlagen wollte, durch ein Fenster Zugang zur Wohnung verschaffen. Bevor der Angeklagte mit einem Teller nach dem Polizisten werfen konnte, setzte dieser Pfefferspray ein.
Nach Aussage des Polizisten sei der Angeklagte dann „mit rotem Kopf“ ins Bad gegangen und habe sich die Augen ausgewaschen. Auf dem Weg dorthin könnte er noch die junge Frau in den Bauch geboxt haben – daran erinnert sich allerdings nur der Polizist, nicht allerdings die Geschädigte. Diese konnte dann ihre Taschen mitnehmen und durch das Fenster fliehen.
Die Befragungen der Polizisten und der Geschädigten nutzt der Angeklagte immer wieder, um deren Aussagen als „Lügen“ zu bezeichnen und als unglaubwürdig diskreditieren zu wollen – trotz wiederholter, teils barscher Ermahnungen des Richters, bitte nur konkrete Fragen zu stellen. Überhaupt machte der Richter schon früh in der Gerichtsverhandlung einen vom Verhalten des Angeklagten sichtlich genervten Eindruck.
„Alles, was die Geschädigte sagt, ist eine Lüge. Ich habe in meinem Leben noch nie eine Frau geschlagen.“Angeklagter
Wie hat der Angeklagte den Vorfall erlebt?
Anstatt selbst Auskunft zu dem Vorfall zu machen, lässt er seinen Anwalt die Aussage verlesen, die er schon bei der Polizei gemacht hatte. Seiner Ansicht nach hätte die 34-Jährige nämlich über Jahre in seiner Wohnung gelebt. „Wir hatten eine sexuelle Beziehung, dafür ließ ich sie bei mir wohnen.“ Als Beweis dafür könne man ja seine Nachbarn befragen, denen die Frau aufgefallen sein muss: „Sie hatte die Angewohnheit, nackt am Fenster zu stehen.“
Nachdem er schon lange den Eindruck gehabt habe, die Frau würde ihm Schlüssel und Handy entwenden, habe er sie an jenem Abend endgültig aus der Wohnung schmeißen wollen. Es kam zum Streit, bei dem sie ihren Kopf mehrfach gegen die Wohnungstür geschlagen haben soll – das erkläre seiner Meinung nach den vermeintlichen Schlag auf die Nase. Sie habe ihm gedroht, ihn wegen Vergewaltigung und Körperverletzung anzuzeigen, wenn er sie rausschmeiße.
„Ich hatte damals auch nur zwei Gläser Wodka getrunken – eigentlich vertrage ich sehr viel. Ich vermute, dass sie mir etwas ins Glas gemischt hat, denn ab einem bestimmten Punkt hatte ich einen Filmriss“, verliest sein Verteidiger die Aussagen seines Mandanten. Dieser sei dann erst am nächsten Morgen wieder aufgewacht, ohne Erinnerung an den Abend. „Bei den Polizisten möchte ich mich entschuldigen. Es war nicht meine Absicht, sie zu verletzten und zu beleidigen.“
Auch stellte der Angeklagte in den Raum, dass die Geschädigte ihm in den Rücken gestochen haben soll. Auch seine als Zeugin geladene Ex-Frau berichtet von drei Stichwunden im Rücken, die sie gesehen haben will. Zu den Stichwunden lag sogar ein ärztlicher Befund vor, der allerdings erst sechs Wochen nach dem Vorfall erstellt wurde. Eine Strafanzeige gegen Körperverletzung hat der Angeklagte nicht gestellt.
So urteilt das Amtsgericht
„Um ganz offen zu sprechen, stellt sich die Frage, welches Ziel Sie mit dem Einspruch gegen den Strafbefehl verfolgen. Aus meiner Sicht gibt es keine Zweifel daran, dass die Anklagepunkte erfüllt sind“, sagt der Richter noch vor den Plädoyers zum Verteidiger. Dieser machte sich sodann daran, für einen Freispruch seines Mandanten zu argumentieren, in dem er die Glaubwürdigkeit der Zeugin infrage stellt. Die Staatsanwaltschaft hingegen forderte eine fünfmonatige Freiheitsstrafe auf Bewährung.
Die Bemühungen des Verteidigers sind letztlich ein hoffnungsloses Unterfangen: Der Richter verurteilt den Angeklagten zu einer Geldstrafe von 3750 Euro. In Anbetracht der finanziellen Lage des Rentners, dessen monatlich zur Verfügung stehende finanziellen Mittel unterhalb der Armutsgrenze liegen, handelt es sich hierbei wohl sogar noch um die härtere Strafe als der kurzfristige Gang ins Gefängnis.