Lucia Linsin, geborene Fricker wird im Juli 97 Jahre alt. In all den Jahren hat sie viel erlebt. Doch diesen Tag vor 75 Jahren kann sie nicht vergessen.
Es war der 15. Februar 1945, ein Donnerstag. Sie arbeitete im Büro der MBB (Mechanische Buntweberei Brennet, Firmierung 1888) in Brennet. Dieses befand sich in der Villa Denk in der Basler Straße. Dorthin mussten nach der Zwangseinquartierung der Rüstungsfirma „Deutsche Waffen- und Munitionsfabrik Berlin“ im September 1944 die Büros verlegt werden.
Über 200 Waggons mit Maschinen und Material waren aus Frankreich in die Fabrik gebracht worden. Die Webstühle mussten ausgeräumt werden und die MBB-Büros kamen in die Villa, wo Carl und Sophie Denk wohnten.

Die Alliierten wussten dass in Brennet kein Buntgewebe mehr, sondern Waffen produziert wurden. Das hatte Folgen.
Lucia Linsin erinnert sich: „Es gab täglich Fliegeralarm. Mit den näher rückenden Franzosen kamen die Flieger. An diesem Donnerstag heulten die Sirenen. Wir spürten, dass es ernst war. Wir rannten in den Keller. Da kam der kriegsversehrte Kollege Biehler zu uns runter. Er war einer der Letzten, die aus Stalingrad ausgeflogen worden waren, und kannte sich mit solchen Angriffen aus.“
„‘Raus, raus‘, schrie er, ‚wenn eine Bombe das Haus trifft, seid ihr alle tot. Wir müssen zum Splittergraben‘.“Lucia Linsin
Am Weg zum Humbel war ein Splittergraben angelegt worden. Dorthin rannte Lucia Linsin um ihr Leben. „Die Flugzeuge waren schon dicht über uns. Ich kam bis zur Wehrabrücke und quetschte mich in einen Spalt am Geländer. Es krachte fürchterlich.“
„Ich hatte Todesangst. Die Bomben schlugen ein, aber trafen uns nicht. Als alles vorbei war, sah ich eine Ziege. Sie hing gegenüber tot in einem Baum, der neben der heutigen Apotheke stand. Dort war früher ein Ziegenstall. Das Bild kann ich nicht vergessen.“Lucia Linsin
Die Fabrik wurde nicht getroffen. Aber zwei polnische Rüstungsarbeiter kamen ums Leben und wurden auf dem Öflinger Friedhof beerdigt. „Gefährlich war noch etwas,“ erinnert sich Lucia Linsin.
„Wenn die Flieger aus dem Wehratal runterkamen, feuerte die Flak im Schweizer Wallbach aus allen Rohren, um sie von der Grenze abzudrängen.“
„Die Munitionsteile regneten auf uns herunter. Man musste aufpassen, dass man nichts abbekam.“Lucia Linsin
Einen Tag später, am 16. Februar, kam Wehr dran. Wieder gibt es einen Augenzeugen. Der damals 13 Jahre alte Bernhard Kuhne befand sich gerade auf der Breitmatt am Wäldchen an der Wehra, oberhalb der MBB. Der Volkssturm hatte dort einen Bunker gebaut. Da ertönte der Alarm.
„Die Nachbarn sind rein in den Bunker. Ich stehe draußen, weil ich die Flieger sehen will. Da kommen vier Spitfire in Formation das Schlössle runter und schießen mit Bordwaffen auf die Buntweberei, sodass Rauch aufsteigt“.Lucia Linsin
Weil Bernhard Kuhne ein Flugzeug-Experte war, erkannte er sofort die Spitfire.

Über die Folgen des Angriffs schrieb Claire Denk, Ehefrau des MBB-Direktors Dr. Anton Denk, in einem Brief vom 25. Mai an ihre Eltern in der Schweiz: „Von dem Bordwaffenbeschuss, den wir am 16. Februar hatten, und bei dem etwa 6.000 Schüsse die Sheds zu Salatsieben machten, muss ich später mal berichten.“

Das Feuer wurde von den Webermeistern gelöscht. Sie hatten keine Arbeit mehr, hielten aber Brandwache. Grund des Angriffs war die Rüstungsfirma Hermes, die bereits 1943 in die MBB zwangseinquartiert worden war und Rüstungsgüter produzierte.
Es sollte schlimmer kommen. Am 10. März, kurz vor 9 Uhr, griffen sieben Jagdflugzeuge erneut die Weberei an. Sie feuerten in drei Minuten etwa 5000 Schuss Spreng- und Brandmunition ab. Der junge Martin Denk konnte sich gerade noch in den Luftschutzkeller retten. Ein Teil der Jacquard-Maschinen fing Feuer. Auch die Nachbarhäuser wie das Kaufhaus Rudolph Bär erhielten Treffer.
Der letzte Angriff
Der letzte Angriff erfolgte am Morgen des 24. März, dem Tag der Besetzung Wehrs. Zehn Stunden später stand der erste französische Panzer vor dem Storchehus, einen Tag später wurde Öflingen kampflos besetzt. Der Krieg war vorbei. Brennet und Wehr hatten nur einen Hauch von dem erlebt, was die Menschen in Coventry, Leningrad oder Dresden erdulden mussten. Das Leid, das der Nazismus über die Welt gebracht hatte, war unvergleichlich mit allem, was es vorher gegeben hatte.

„Ich bin dankbar, dass ich seither in Frieden leben kann“, sagt die geistig rüstige Seniorin und freut sich auf ihren 97. Geburtstag. Der 15. Februar 1945 hätte für Lucia Linsin auch anders ausgehen können.