Herr Sausen, Sie sind neuer Geschäftsführer der Lebenshilfe Südschwarzwald. Was macht der Verein genau?
Wir bieten Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen und deren Familien Unterstützung in allen Lebenslagen – Lebens-Hilfe ist also wirklich gelebte Realität. Von Frühförderung (0 bis 3 Jahre) in Lauchringen, Bad Säckingen, Bonndorf und Jestetten, über einen Kindergarten in Laufenburg und Titisee-Neustadt (3 bis 6 Jahre), die Jobförderung an unserem Kompetenzzentrum für berufliche Teilhabe in Laufenburg, über Sport-, Spiel-, Musik-, Gruppen- und Infoveranstaltungen für Menschen aller Altersgruppen – bis hin zur Unterstützung bei Familien zu Hause. Wo Hilfe am Hochrhein, im Süd- oder Hochschwarzwald gebraucht wird, sind wir da.
Puh, das hört sich umfangreich und nach einem riesigen Gebiet an?
Absolut. 75 Festangestellte und über 200 Ehrenamtliche sind Tag für Tag im Einsatz, um Menschen mit besonderen Herausforderungen zu unterstützen. Rund 320 Familien unterstützen wir pro Jahr. Dazu gehören Menschen mit Autismus, Down-Syndrom, ADHS, Muskelschwächen oder anderen geistigen oder körperlichen Behinderungen – die Diagnosen sind so vielseitig, wie die Menschen selbst.

Sie haben im November 2024 als Geschäftsführer begonnen. Hatten Sie vorher in Ihrem Leben Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderungen?
Viele Kolleginnen und Kollegen haben Betroffene in der Familie. Also ist meine Antwort unüblich, aber: Nein. Für mich waren viele Begegnungen ganz neu. Und ich muss sagen: Sie berühren mein Herz jedes Mal. Nicht, weil sie traurig sind, sondern wunderschön! Sie lassen mich wachsen und viele als „normal“ geltende Dinge in unserer Gesellschaft hinterfragen. Wenn nur die Hälfte der Menschen mit einem so offenen Herzen durch die Welt gehen würde, wie diese besonderen Menschen, dann wäre die Welt eine bessere!
Wie meinen Sie das?
Wir, die diese Andersartigkeit nicht kennen, fühlen Ängste und Unsicherheiten, auf uns unbekannte Mitmenschen zuzugehen. Von Betroffenen lerne ich jeden Tag, dass sie diese Ängste nicht haben, sondern vorurteilsfrei und neugierig Fragen stellen und einfach Menschen sind. Da können wir alle noch viel lernen. Wir sollten allen Menschen mit offenem Herzen begegnen.
Inklusion, also vorurteilsfreie Teilhabe aller Menschen, ist politisch wie gesellschaftlich ein Riesenthema. Sind wir auf einem guten Weg?
Politisch sind Bemühungen da und es ist toll und relevant, dass so viel über Inklusion gesprochen wird. Das Problem: Oft werden Projekte nicht zu Ende gedacht. Ein Beispiel: Es ist toll, wenn sich ein Verein lautstark dafür einsetzt, dass er auch Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen offensteht. Aber: Die Infrastruktur dafür muss auch da sein, etwa behindertengerechte Zugänge und Toiletten.
Wie könnte die Umsetzung solcher Projekte künftig besser gelingen?
Indem Betroffene und Angehörige in die Planungen mit einbezogen werden. Statt bürokratischer Bedarfsanalyse auf dem Papier, sollte man den Menschen, für die man bessere Bedingungen schaffen möchte, auch mit einbeziehen. Das ist Inklusion. Wir als Lebenshilfe sind gerne bereit, gemeinsam mit Kommunen, Vereinen und Institutionen regelmäßige Treffen zu organisieren, die unser Alltagsleben für alle Menschen besser machen. Interessenten dürfen gerne auf uns zukommen.
Die Lebenshilfe versteht sich als Verein, der Hilfe zur Selbsthilfe bietet. Was bedeutet das konkret?
In unseren lokalen Fördereinrichtungen wird jeder Mensch nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Herausforderungen unterstützt. Ob sprachliche, körperliche, ergotherapeutische oder kognitive Übungen durchgeführt werden, ist ganz individuell. Das Ziel ist immer, ein möglichst selbstständiges Leben zu leben – bei manchen Menschen sind kleine Schritte ein Riesenerfolg: Das Anziehen eines Pullovers. Bei anderen kann sogar der Eintritt in den regulären Arbeitsmarkt erfolgen. Außerdem unterstützen wir Menschen dabei, Selbsthilfegruppen, Spieltreffs oder Stammtische zu organisieren – wir bringen Menschen zusammen.
Wie wichtig ist der Austausch für Familien untereinander?
Sehr wichtig. Das Zusammenkommen mit anderen Betroffenen bringt viele aus der sozialen Isolation. Hier können sie ohne schiefe Blicke und ohne viel erklären zu müssen, Erfahrungen, Kontakte, Frust und Freuden teilen.
Sie haben auch Familienlotsen im Einsatz bei betroffenen Familien zu Hause. Was machen die genau?
In der Regel wird ein Ehrenamtlicher in derselben Familie mit betroffenen Kindern, Jugendlichen oder Angehörigen über Jahre eingesetzt. Sie kennen sich in der Behindertenhilfe aus, stellen Kontakte zu passenden Angeboten und Kostenträgern her. Sie unterstützen aber auch bei alltäglichen Dingen, wie Fahrdiensten, schenken Zeit und ein offenes Ohr, begleiten zum Schwimmunterricht und zu Ferienfreizeiten, um Angehörige und Geschwisterkinder zu entlasten. Ein Großteil unserer Familienlotsen macht das ehrenamtlich.
Das Ehrenamt ist eine wichtige Säule in Deutschland ist. Ist es schwieriger geworden, Ehrenamtliche zu finden?
Ja, leider. Finanzielle Sorgen und Mehrfachbelastungen, etwa durch Vollzeitjob, Haushalt und die Pflege eigener Angehöriger, spielen da sicher eine Rolle. Aber ich kann nur Mut machen: Diese Tätigkeit ist sehr erfüllend und ohne Ehrenamtliche geht es nicht.
Warum nicht?
Unsere Angebote sind für Betroffene kostenlos. Oft wird die Teilnahme durch Kostenträger bezuschusst, aber Spenden- und Fördergelder von Stiftungen und ehrenamtlichen Helfern machen ein einigermaßen rentables Tun überhaupt erst möglich. Familien mit geistig oder körperlich behinderten Menschen sind ohnehin stärker finanziell belastet, weil Hilfsmittel teuer sind und meist ein Familienmitglied als Vollverdiener ausfällt. Wir möchten unbedingt auch in Zukunft für alle greifbar bleiben.