Das Gespräch mit Jennifer (Name geändert) findet Anfang Oktober 2019 in den Räumen einer Beratungsstelle im Kreis Waldshut statt. Neben der Elfjährigen und der Autorin, sind ein Sozialpädagoge und die Mutter des Mädchens anwesend. Die beiden Begleiter halten sich im Hintergrund und äußern sich während des rund 45-minütigen Gesprächs nicht.
„Ich möchte anderen Kindern, deren Eltern auch Probleme haben, eine Stimme geben. Ich will ihnen zeigen, dass sie nicht alleine sind“, sagt Jennifer. Deshalb spricht sie offen über ihre Erlebnisse und über ihre Gefühle. Obwohl es ihr sichtbar schwer fällt.
„Wir hatten schon länger Probleme mit Papa.“
Das sagt Jennifer gleich zu Anfang. Ihre Eltern trennten sich vor einigen Jahren, als sie noch kleiner war. Seither sah sie ihren Vater regelmäßig jedes zweite Wochenende, übernachtete auch bei ihm. Die Probleme? „Mein Papa ist alkoholsüchtig. Mittlerweile hat er auch Depressionen. Auch seine neue Frau trinkt regelmäßig zu viel.“
Ab Ende 2018 wird die Situation unerträglich für Jennifer. „Ich habe dann nicht mehr dort übernachtet, denn abends war es besonders schlimm. Ich habe Papa manchmal gar nicht mehr wiedererkannt. Er war sehr komisch. Ich habe das nicht verstanden.“ Über die Szenen, die sich in der Wohnung des Vaters abspielten, schweigt die Elfjährige. Vergessen wird sie diese aber wohl nie.
Die Depressionen des Vaters werden schlimmer, der Kontakt immer seltener, bis sich Vater und Tochter fast nicht mehr sehen. „Die Treffen waren dann oft nur ein oder zwei Stunden. Da kann man gar nichts unternehmen und auch nicht in Ruhe reden.“
„Alles hat sich plötzlich verändert. Auch zuhause bei Mama war es komisch. Ich habe genau gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Wenn ich aber nachgefragt habe, hat sie immer gesagt, dass nichts sei. Das habe ich aber nicht geglaubt. Ich habe mir Sorgen gemacht. Um Papa. Und um meine Familie.“
Die angespannte Situation und die vielen offenen Fragen belasten die Elfjährige. Jennifers Noten werden deutlich schlechter. Die sonst sehr gute Schülerin ist unaufmerksam, kann sich nicht mehr konzentrieren, es fällt ihr immer schwerer, dem Unterricht zu folgen. „Ich habe einfach nicht mehr aufpassen können. Es gab so viel, das mich an Papa erinnert hat. Und dann nehmen wir auch noch das Thema Familie durch“, sagt sie.
„Ich habe versucht, tapfer zu sein.“
Ob sie mit dem Gedanken gespielt habe, einfach aus dem Raum zu rennen? „Ja, öfter mal. Gemacht habe ich es aber nicht. Aber ich habe auf dem Stuhl gezittert und auch geweint.“
Das Vater-Thema scheint allgegenwärtig. „Einmal haben sich zwei Jungs vor mir über den Vatertag unterhalten und was sie mit ihren Papas unternehmen. Und meinen kann ich nicht sehen und weiß nicht, was mit ihm los ist. Ich war so wütend.“ Jennifer ergänzt: „Und plötzlich ging es in allen Geschichten, die wir in Deutsch gelesen haben, nur noch um Väter und wie toll sie sind. Das hat mich wirklich traurig gemacht.“

„Einmal habe ich zuhause sogar ein Bild von Papa zerrissen. Ich konnte es nicht ertragen, sein Gesicht zu sehen.“ Man merkt ihr an, wie unangenehm ihr selbst jetzt noch diese Reaktion ist.
„Ich habe gedacht, dass ich ganz alleine damit zurechtkommen muss.“
Fast sechs Monate lang versucht Jennifer, das Problem für sich selbst zu lösen. Dann erst offenbart sie sich ihrer Mutter. „Und dann habe ich mit der Schulpsychologin geredet. Ein paar Mal.“ Gespräche, die Jennifer gut tun. Auch die Klassenlehrerin wird ins Vertrauen gezogen. „Sie hat dann wirklich drauf geachtet, dass wir nicht mehr Geschichten über Papas lesen und so. Zum Glück.“
Über die Schule kommt der Kontakt zu einer psychologischen Beratungsstelle zustande. „Ich bin gerne dort. Immer sagen die Leute, dass sie einen verstehen. Aber in Wirklichkeit tun sie das gar nicht. Es tut so gut, mit anderen zu reden, die einen wirklich verstehen“, sagt Jennifer. Direkt an die Autorin gewandt ergänzt sie:
„Darum rede ich jetzt auch mit Ihnen, damit auch andere Kinder Bescheid wissen, dass sie nicht alleine sind.“
Der Kontakt der Tochter zum Vater wird immer weniger. Das Jugendamt soll vermitteln. Doch Jennifers Vater kommt nicht zum Termin. Zunächst geht das Mädchen davon aus, dass er verhindert ist. „Es war jemand gestorben, ich dachte, wahrscheinlich war es deswegen. Aber das hätte er doch sagen können.“ Sie hält kurz inne und fügt leise hinzu: „Hat er aber nicht.“
Nun kennt Jennifer die ganze Wahrheit. „Ich habe etwas richtig Verbotenes gemacht. Einmal habe ich heimlich Mamas Handy genommen und geschaut, mit wem sie immer schreibt und dann so komisch ist. Und nicht will, dass ich etwas weiß.“ Jennifer liest SMS und Chatverläufe ihrer Mutter. „Da stand drin, dass Papa überhaupt nicht vor hatte, zu dem Termin beim Jugendamt zu kommen. Das hat er so geschrieben.“ Vieles liest die Elfjährige über den tatsächlichen Zustand ihres Vaters.
„Dann hat Mama endlich ganz offen mit mir geredet. Das tat so gut. Wir haben auch zusammen geweint, aber ich war so froh.“
Ihre Erleichterung von damals ist immer noch hörbar. „Ich war traurig, dass sie nicht von selbst mit mir geredet hat. Mittlerweile weiß ich, dass Mama mich nur beschützen wollte. Obwohl das gar nicht nötig war. Aber ich bin ihr nicht mehr böse.“
Ende August 2019 dann ein weiterer Tiefpunkt. „Ich kam zufällig bei Papa vorbei und da hatte er gerade einen Suizidversuch gemacht.“ Sie ergänzt: „Zum Glück hat er es nicht geschafft.“ Jennifers Vater liegt reglos im Bett. „Er hat geweint und war völlig fertig. Vier Polizisten waren in der Wohnung. Papa wurde in die Psychiatrie gebracht. Ich hatte solche Angst.“ Jennifers Vater wird stationär behandelt.
„Papa braucht jetzt erst mal Zeit für sich. Es geht schließlich um ihn.“
Die Elfjährige verstummt kurz, ehe sie weiterspricht. „Ich vermisse meinen Papa so sehr. Ich habe ihn doch lieb.“ Abends ist es besonders schlimm. „Es ist einfach komisch, ihn nicht mehr zu sehen. Und ihn nicht mehr zu haben.“ Ob sie ihm hin und wieder eine Whatsapp schreibt? „Ja, ab und zu mache ich das, aber nicht so oft. Ich darf dann auch keine Antwort erwarten.“
„Ich wünsche mir, Papa wieder öfter zu sehen. Ab und zu und auch nur für ein paar Stunden, wenn es nicht anders geht. Ich glaube, dass er sich bessert. Ich habe wirklich das Gefühl, dass sich jetzt etwas bessert.“ Die Elfjährige erzählt: „Vor Kurzem habe ich einen Brief von Papa bekommen. Ich musste weinen vor Freude und habe gleich zurückgeschrieben.“ Der Inhalt der beiden Briefe ist Jennifers Geheimnis. Auf eine Antwort ihres Vaters wartet sie noch.
„Ich muss Geduld haben. Ich darf ihn nicht unter Druck setzen.“
In der psychologischen Beratung hat Jennifer Strategien gelernt, mit ihren Gefühlen umzugehen und Halt zu finden. Viel lebhafter als noch zu Gesprächsbeginn erzählt sie darüber: „Die Kuscheltiere helfen mir immer. Sie müssen so klein sein, dass sie in eine Jackentasche passen und man sie immer unbemerkt berühren kann, wenn man will.“ Die Elfjährige erklärt, dass das aber auch mit einer Kette oder anderen kleinen Gegenständen funktioniert.
„Ich finde auch das Aufschreiben gut. Man kann alle Sorgen und alles, was einen bedrückt und wütend macht, auf einen Zettel schreiben und den dann wegwerfen. Dann ist es ein bisschen so, als ob die Probleme weg sind.“
„Man darf niemals aufgeben.“ Das rät Jennifer Kindern und Jugendlichen, die das Gefühl haben, dass sich ihre Welt stark verändert, dass es Probleme gibt, oder dass mit der Familie etwas nicht stimmt. „Wenn man meint, da ist etwas, sollte man das genau beobachten. Und dann seine Mama darauf ansprechen.“ Bei ihren Freundinnen gilt Jennifer als hilfsbereit und geschätzte Gesprächspartnerin. „Aber man muss auch akzeptieren, wenn Freunde mal nicht über etwas reden wollen“, gibt sie zu bedenken.
Offenheit und Gespräche, das sind Dinge, die Jennifer vor allem Eltern und Kindern empfiehlt – sogar fordert.
„Man bekommt es als Kind ja eh mit, dass etwas nicht stimmt. Ich habe heimlich in Mamas Handy gelesen. Das war falsch. Aber ich bin so froh, dass wir nun ehrlich miteinander sind.“
Jennifers Familie hat die besondere Belastung der Elfjährigen verstanden. „Das tut gut. Alle geben mir viel Kraft. Ich bin so froh, dass ich sie habe. Ich bin so froh, dass meine Mama mich beschützt.“
Jennifers Welt ist etwas heller geworden. Ihre Hobbys machen ihr wieder Spaß und sie weiß schon genau, was sie will: „Das Abitur machen und dann Polizistin werden.“
Als sie das sagt, lächelt sie.
Hinter der Geschichte: So habe ich als Autorin das Gespräch mit Jennifer erlebt
Das Gespräch mit Jennifer war für mich eines der herausforderndsten, das ich je geführt habe. Nicht, weil das Mädchen sich nicht hätte ausdrücken können – ganz im Gegenteil. Ich sehe Jennifer in die Augen, als sie ganz selbstverständlich Dinge wie „Alkoholsucht“, „Depressive Phase“, „Psychiatrie“ und sogar „Suizidversuch“ ausspricht. Nüchtern. Klar. Sachlich. Sie sitzt ganz ruhig. Über eine Dreiviertelstunde. Schaut mich an. Meist knetet sie ihre Hände im Schoß, so dass die Fingerknöchel weiß hervortreten.
Für mich ist das berührend und bedrückend. Denn Jennifer ist erst elf Jahre alt. Von all diesen Dingen sollte sie noch gar nichts wissen müssen. Sie sollte Kind sein, spielen und unbeschwert die Welt entdecken, sich des Rückhalts von Mama und Papa gewiss. Doch manche Dinge sind nicht zu ändern. Was mich tröstet: Jennifer ist mit ihren Problemen nicht mehr alleine.
Als Journalistin höre ich Jennifer zu, frage nach, versuche die wesentlichen Informationen aufzunehmen. Professionell nennt man das. Doch innerlich bin ich die ganze Zeit über angespannt. Ich habe Angst. Angst, eine falsche Frage zu stellen, mit einer Formulierung einen wunden Punkt zu treffen und damit dieses tapfere Mädchen zu verletzen.
Ich bin sehr erleichtert, als wir anschließend miteinander über ihre Hobbys sprechen, über die Schule, ihre Träume und Ziele. Und da endlich ist es: Dieses Leuchten in den Augen, das lebhafte Gestikulieren, das Kichern, das positiv aufgeregte Geplapper. So, wie man es von einer Elfjährigen eigentlich erwartet.