Die Erkenntnisse aus dem aktuellen Jugendreport Natur 2021 sind erschreckend: Nur ein Drittel der rund 15.000 befragten Jugendlichen zwischen zwölf und 15 Jahren weiß, wo die Sonne aufgeht. 115 benennen exotische Früchte – wie etwa Bananen – als jene, die an heimischen Bäumen wachsen. Hinzu kommen unzureichende biologische Kenntnisse im engeren Sinne etwa von Vogel-, Baum- und Getreidearten. Die Studie zeigt deutlich eine wachsende Naturentfremdung auf. Ein Problem, das auch Naturpädagogin Lisa Timpe aus Murg erkannt hat. Die Gründe: Viele Kinder und Jugendliche würden heutzutage zu wenige Naturerfahrungen machen, hätten geringe Naturkontakte, womit auch das Interesse an der Natur sinkt. Dem möchte sie entgegenwirken.
Dass die Wurst nicht so zur Welt kommt
In ihrem Ehrenamt als Naturpädagogin biete sie das Projekt „Lernort Natur“ des Landesjagdverbands landkreisweit für Gruppen, etwa aus Kindergärten und Schulen an. Das Projekt, das es schon seit 30 Jahren gibt, wurde von der UN ausgezeichnet. Timpe ist eine von fünf „Lernort Natur“-Anbieterinnen im Landkreis Waldshut. Auch das „Lernort Natur“-Mobil im Landkreis betreut Timpe auf einigen Veranstaltungen.
Für kleinere Kinder können bei den Ausflügen in den Wald Themen wie Insekten interessant sein, für ältere etwa heimische Wild- und Baumarten. Auf diesen Erlebnis-Touren erfahre sie zwar noch Wissens-Unterschiede zwischen Stadt- und Landkindern, „aber längst nicht so wie man sich das vielleicht vorstellt“, sagt die 37-Jährige. Ist sie mit Kindern im Wald unterwegs, erklärt sie die Unterschiede zwischen Kaninchen und Hase oder Rotwild und Rehwild, macht die Zusammenhänge deutlich, etwa, warum die Blätter von den Bäumen fallen.

„Manchen Kindern ist nicht klar, dass die Wurst nicht so zur Welt kommt und dass Chicken Nuggets auch vom Tier sind“, sagt Timpe, ohne die Kinder zu verurteilen und damit per se alle zu meinen. Dann erklärt sie etwa, welche Schritte zwischen dem Tier und dem Fleisch auf dem Teller liegen. Sie erlebe jedes Mal eine unheimliche Dynamik, wenn die Kinder dann Neues erfahren, sie sich darauf einlassen, die Neugierde und damit auch das Interesse für die Natur steigt.
Wie man sich als Gast im Wald verhält
Timpe, die selbst Jägerin ist, mache dabei aber auch klar, dass Jagen weitaus mehr ist als nur ein Tier zu töten und, dass Jagen und Naturschutz kein Widerspruch ist. Beim Lernort Natur gehe es längst nicht nur um Wissensvermittlung, sondern vor allem auch darum, dass die Kinder sich als Teil des Ökosystems verstehen, den Wald mit allen Sinnen erleben und wahrnehmen und Achtsamkeit gegenüber der Natur entwickeln. Dabei fange sie oft ganz von vorne an mit der Antwort auf die Frage: „Wie verhalte ich mich als Gast richtig im Wald?“ Der Hintergedanke: „Wenn ich mich als kleines Kind schon als Bestandteil der Natur erlebe, weiß ich, dass ich meinen Müll hier nicht liegen lasse“. Der Aspekt Nachhaltigkeit spielt also auch immer eine große Rolle.
„Nachhaltigkeit soll kein Trend bleiben, sondern muss mit Leben gefüllt werden, dazu ist es wichtig, dass man die Natur selbst erlebt.“Tina Timpe
Welche Rolle die Medien dabei spielen
Zurück zum Jugendreport Natur: Für die Mehrheit der befragten Jugendlichen ist das eigene Zimmer oder die Stadt inzwischen der beliebteste Aufenthaltsort, mit steigender Tendenz. Für rund ein Drittel der Befragten ist das Computerspiel oder die Teilnahme an sozialen Netzwerken unverzichtbar. Täglich nutzen rund 88 Prozent der befragten Jugendlichen Handy, Laptop, Fernseher oder Spielekonsole.
Auch Timpe weiß: „Die Mediennutzung nimmt zu, die Zeit drinnen nimmt zu.“ Aber: „Es geht nicht darum, die Medien zu verteufeln, sondern darum, dass das Naturerleben nicht in Vergessenheit gerät, wieder eine Balance zwischen Beidem zu finden.“
Es geht um weitaus mehr als nur Naturverständnis
Lisa Timpe arbeitet in einer Schweizer Klinik als Kinder- und Jugendpsychiaterin. Viele Elemente aus der Naturpädagogik, nutz sie in ihrer Arbeit als Ärztin, sieht wiederum aber auch einen hohen ärztlich-therapeutischen Wert in ihrer naturpädagogischen Arbeit. Sie macht klar, warum das Erleben in der Natur für die Kinder so wichtig ist und betont dabei auch die Bedeutung von anderen Angeboten wie etwa Waldkindergärten oder Waldklassenzimmern, die auch am Hochrhein immer mehr zunehmen.

Bei all dem ginge es um viel mehr als nur um das Naturverständnis: „Es stärkt die geistige und körperliche Entschleunigung, die Kinder haben viel mehr Bewegung und wertvolle Erinnerungen, die für immer bleiben“, sagt Timpe. Außerdem sei das Miteinander etwa in einem Waldkindergarten enorm wichtig.
Ein Staudamm könne eben nur gemeinsam gebaut werden, mit Bauklötzen könne ein Kind wiederum auch alleine spielen. Und vor allem, werde beim Spielen in der Natur die Fantasie und Neugierde enorm gefördert. „Die Erlebnisse in der Natur bleiben auch im Erwachsenenalter als Kraftquelle bestehen und sind wichtig für Entscheidungen in Bezug auf die Nachhaltigkeit“, so Timpe.
Weitere Angebote zur Naturbildung in der Region
Das breite Angebot der Naturbildung im Landkreis sei eine wichtige Ergänzung, etwa zum Sachunterricht. „Es ist eine Bereicherung und die Kinder können beim Lernen erleben“, sagt die Naturpädagogin.
Warum sie sich ehrenamtlich einsetzt
Das Projekt Lernort Natur ist für Timpe reines Ehrenamt und das soll auch so bleiben. „Ich fände es fatal, wenn es bei Familien an den Kosten scheitern würde – es ist wichtig, das Erlebnis Natur für alle zugänglich zu machen“, betont sie. „Die Natur und sich darin erleben muss gratis sein.“