Der Gerichtssaal ist dieses Mal mit Lautsprecherboxen, Mikrofonen und Videokameras ausgestattet gewesen. Anwälte in Präsenz? Fehlanzeige. Lediglich die Klägerin und Johannes Daun, Richter und Vizepräsident des Landgerichts Waldshut-Tiengen, erschienen vor Ort. Alle weiteren Juristen saßen in einem virtuellen Konferenzraum, auf einer Leinwand übertragen.

Klägerin will Schmerzensgeld in Höhe von 1000 Euro

Doch zunächst zur Sache. In dem Zivilprozess ging es darum, dass eine Klägerin aus Lottstetten der Betreiberin einer Musikplattform (Beklagte) vorwarf, gegen das Datenschutzgesetz verstoßen zu haben. Konkret sei es im Jahr 2019 auf der internationalen Musikplattform zumVerlust von 229 Millionen Datensätzen gekommen. Darunter wohl auch personenbezogene Daten der Lottstetterin. Denn, so sagte sie, seitdem bekomme sie regelmäßig Spam-E-Mails. Außerdem finde sie in einer Suchmaschine im Internet genauere Angaben zu ihrer Person, wenn sie dort ihren Namen eingebe.

Die Betroffene selbst habe erst Jahre später von dem Datenleck erfahren, nachdem Unbekannte ihre Daten bereits im sogenannten Darknet veröffentlicht hätten. „Ich habe Angst“, schilderte die Klägerin, wie viele andere Betroffene solcher Massenklagen, ihr Gefühl des Kontrollverlusts durch die Tat. Für den Verstoß wollte sie Schmerzensgeld in Höhe von 1000 Euro, Schadensersatzleistungen für mögliche zukünftige Schäden und den Ersatz der vorgerichtlichen Kosten. Auch eine Auskunft über Daten, die die Beklagte von ihr verwalte, wollte sie einfordern.

Zusammenhänge bleiben zweifelhaft

Das Problem: Aus dem wohl gestohlenen Datensatz der Lottstetterin lasse sich weder ihr Name, noch ihre Anschrift oder eine E-Mail-Adresse ableiten. Ein Zusammenhang zwischen den Spam-E-Mails und dem Datenleck auf der Musikplattform lasse sich somit nicht eindeutig feststellen. Nach mehrfachem Nachhaken gab die Klägerin vor Gericht dann zu, auch weitere Apps und soziale Medien „mal ausprobiert“ zu haben. Ein Abfluss von Daten hätte auch hier möglich sein können.

Längst beschäftigen solche „Massefälle“, wie Johannes Daun, Vizepräsident des Landgerichts Waldshut-Tiengen, pflegt zu sagen, auch die Gerichte am Hochrhein. Rechtsanwaltskanzleien würde im Internet mit Anzeigen gezielt Verbraucher auf solche Datenlecks aufmerksam machen und ihnen juristischen Erfolg versprechen. Die wirtschaftliche Bedeutung der einzelnen Fälle sei gering, der Gewinn für die Rechtsanwaltskanzleien bei mehreren tausend Mandanten dafür umso höher.

Johannes Daun, Vizepräsident des Landgerichts Waldshut-Tiengen.
Johannes Daun, Vizepräsident des Landgerichts Waldshut-Tiengen. | Bild: Baier, Markus

Der Versuch einer Definition des Phänomens

„Massenklagen sind gekommen, um zu bleiben“, heißt es in einer im Internet zugänglichen Stellungnahme von Thomas Riehm, Professor am Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Privatrecht, Zivilverfahren und Rechtstheorie der Universität Passau. Aber was ist darunter zu verstehen? Der Deutsche Richterbund definiert: „Unter Massenverfahren sind solche Rechtsstreite zu verstehen, die eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle betreffen. Das heißt eine Vielzahl von Fällen mit im wesentlichen gleichem Lebenssachverhalt und im wesentlichen gleichen Rechtsfragen.“

Populär seien solche Fälle vor allem durch die Volkswagen-Dieselaffäre geworden, bei der viele private Autobesitzer versucht hätten, Profit aus der Affäre zu schlagen. „Das Phänomen der Massenverfahren ist die Kehrseite dessen, was lange Zeit als das wichtigste Ziel rechtsstaatlicher Reformen des Prozessrechts galt, nämlich des möglichst unbeschränkten Zugang zum Recht und der flächendeckenden realen Verfügbarkeit von Rechtsschutz für Privatrechte“, heißt es in der Stellungnahme weiter.

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Klägerin muss die Verfahrenskosten selbst tragen

Richter Johannes Daun wies die Klage der Lottstetterin in der Urteilsverkündung als unzulässig und unbegründet zurück. Die Verfahrenskosten muss die Klägerin nun selbst, oder ihre Rechtsschutzversicherung, bezahlen. Das Gericht war davon überzeugt, dass ihr durch das Datenleck auf der Musikplattform kein Schaden entstanden ist. Angst und ein Gefühl von Kontrollverlust rechtfertigen keinen immateriellen Schadensersatz.

Auch, dass in der Zukunft Schäden entstehen könnten, bezweifelt das Gericht. „Der hinterlegte Datensatz enthielt weder ihren Namen noch die Adresse. Auch die kryptische E-Mail-Adresse ist nicht auf die Klägerin zurückzuverfolgen“, erklärte er sein Urteil. „Es ist ein Fall von vielen.“ Das Urteil ist noch nichts rechtskräftig. Innerhalb eines Monats kann die Klägerin Berufung einlegen.

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