Geht es nach Staatsanwältin Bisegger, dann muss ein 45-jähriger Mann wegen mehrfachen Missbrauchs von Kindern für fünf Jahre und elf Monate ins Gefängnis. Geht es nach seinem Verteidiger Sascha Böttner, dann endet der Prozess vor der Ersten Großen Jugendkammer des Landgerichts Waldshut-Tiengen nach insgesamt sieben Verhandlungstagen in der kommenden Woche mit einem glatten Freispruch.

Nur Staatsanwältin und Verteidiger können plädieren

Diese beiden Plädoyers sind am Freitag noch gehalten worden. Für das Plädoyer der Anwältin der Nebenklägerin reichte die Zeit dann nicht mehr. Der Anwalt des Angeklagten musste zurück nach Hamburg. Die Vertreterin der Nebenklage wird am Montag, 30. Juni, plädieren, am Mittwoch dann will Richter Martin Hauser den Urteilsspruch der Kammer verkünden. Die Taten hatten sich zwischen 2018 und September 2020 in einem Schwarzwalddorf im Norden des Landkreises Waldshut ereignet.

Verteidiger will weitere Gutachten

Lange sah es am Donnerstag und Freitag so aus, als könne der Prozess überhaupt noch nicht abgeschlossen werden. Verteidiger Böttner hatte am Donnerstag zunächst in Erwägung gezogen, noch ein psychiatrisches Gutachten über das Opfer der Missbrauchstaten anzufordern. Davon sah er dann am Freitagvormittag aber doch ab und stellte stattdessen einen Befangenheitsantrag gegen den Rechtspsychologen Kenan Alkan-Mewes.

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Opfer muss erneut in den Zeugenstand

Der hatte zuvor die Aussagen des Opfers der Missbrauchsfälle – die 2006 geborene Tochter des Angeklagten – als glaubwürdig eingestuft, was bei Rechtsanwalt Böttner zu völligem Unverständnis geführt hatte. Den Befangenheitsantrag lehnte das Gericht am Freitag ab. Es beschäftigte sich aber lange mit der Frage, ob nicht doch weitere psychologische Expertisen eingeholt werden sollen. Letztlich wurde die Beiständin des Opfers – eine Diplom-Psychologin – als Zeugin vernommen. Und auch das Opfer selbst musste noch einmal in den Zeugenstand. Dabei ging es um die genauen Umstände, die Ende 2021 zu einer Unterbringung und Behandlung in einer psychiatrischen Fachklinik für Jugendliche geführt hatten.

Gutachter hält Opfer für glaubwürdig

Die Fragestellung der Staatsanwaltschaft an den rechtspsychologischen Gutachter könnte aus dem Lehrbuch für formvollendetes Beamtendeutsch stammen, drückt aber nach Darstellung des Gutachters exakt aus, was er zu tun hatte: „Könnte NN mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüsse Dritter ihre spezifischen Aussagen machen, ohne einen eigenen Erlebnishintergrund zu haben?“

Die Antwort des Gutachters war eindeutig, nachdem er anhand einer ganzen Reihe von Parametern ausgeschlossen hatte, dass das Opfer bewusst gelogen hatte und auch, dass Suggestionen zu einer falschen Wahrnehmung geführt hatten. Die Frage könne mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Nein beantwortet werden. Es müsse mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Wahrannahme ausgegangen werden.

Das sagen Großmutter und Partnerin des Angeklagten

Das dürfte überhaupt nicht im Sinne der beiden Zeuginnen gewesen sein, die dem Gericht am Donnerstag zuvor jeweils mehrere Stunden lang Rede und Antwort standen. Im Zeugenstand Platz genommen hatten zunächst die inzwischen mehr als 80-jährige Großmutter des Angeklagten und Uroma des Opfers sowie die Lebenspartnerin des Angeklagten. Das Paar lebte von 2014 bis 2021 mit der Seniorin in deren Haus in dem kleinen Schwarzwalddorf. In den Ferien hatte die Urenkelin ihre Uroma mehrmals im Jahr besucht. Dabei kam es bei den ersten Besuchen zu keinen Begegnungen mit dem im Obergeschoss lebenden Vater.

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Sie habe sich sehr gefreut, so erinnert sich jetzt die Lebenspartnerin, als die Tochter 2015 erstmals zum Vater ins Obergeschoss durfte. Von da an pendelte sie von Wohnung zu Wohnung. Man habe sich stets bemüht, dem Mädchen den Aufenthalt in dem kleinen Dorf so angenehm wie möglich zu machen, berichten die Großmutter und die Partnerin des Angeklagten gleichermaßen.

Häufig habe man das Mädchen am ersten Tag ihres Besuchs in Waldshut oder Tiengen neu einkleiden müssen, weil es mit verwaschenen und zu kleinen Textilien aus dem Kreis Singen angereist kam. In etlichen Details widersprachen sich die Aussagen der beiden Frauen zwar, in der Kernaussage aber passte kein Stück Papier zwischen die beiden.

Großmuter: Mädchen hat die Familie zerstört

Der Angeklagte und das Opfer seien nie so lange allein gewesen, dass es zu sexuellen Übergriffen habe kommen können. Die Uroma bekannte, mit ihrer Urenkelin nichts mehr zu tun haben zu wollen. Das Mädchen habe die Familie zerstört. Und auch die seit 2018 zunächst kranke und ab 2019 erwerbsunfähige Lebenspartnerin meinte, vom Opfer schwer enttäuscht worden zu sein. Von den Vorwürfen, so die beiden Frauen gleichlautend, habe man erst erfahren, als die Polizei für eine Hausdurchsuchung im Hof stand.

Das sagen die Freundinnen des Opfers

Wohl ebenso ungläubig wie die beiden Frauen beim Besuch der Polizei 2020 haben ganz offensichtlich im Kreis Konstanz eine Freundin des Opfers und deren beide Schwestern einige Wochen zuvor drein geblickt, als das Opfer in Andeutungen erzählte, was ihr über Jahre hinweg in dem Schwarzwalddorf widerfahren war. Um ihre Glaubwürdigkeit zu untermauern, rief das Opfer im Beisein von zweien der Schwestern ihren Vater an und fragte diesen, ob sie gemeinsam shoppen gehen können. „Du weißt, was Du tun musst, damit wir shoppen gehen“, soll der Vater am Telefon geantwortet haben. So jedenfalls berichteten es die drei Geschwister unabhängig voneinander am Mittwoch im Zeugenstand.

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Für Anwalt Sascha Böttner ist diese Aussage ein Beleg dafür, dass es nicht um einen Fall von sexuellem Missbrauch von Kindern gehe, sondern um einen Fall von Kinderprostitution. In einem Telefonchat beteuerten sich damals übrigens Vater und Tochter ihre gegenseitige Liebe.

Wie geht der Prozess weiter?

Der Prozess gegen den 45 Jahre alten Angeklagten wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs von Kindern in 25 Fällen, des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen, des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in einem Fall und des schweren sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in vier Fällen in Tateinheit mit Vergewaltigung geht am Montag, 30. Juni, weiter.

Dann hält die Anwältin der Nebenklägerin ihr Schlussplädoyer. Am Mittwochnachmittag, 2. Juli, wird Richter Martin Hauser, der Vorsitzende der Jugendkammer des Landgerichts, das Urteil verkünden. Am Vormittag wird sich die Kammer – zwei Berufsrichter und zwei Schöffen zur Beratung zurückziehen.

So lief die bisherige Verhandlung

Erster Prozesstag: Das wird dem Angeklagten vorgeworfen

Zweiter Prozesstag: Das Opfer sagt mehr als drei Stunden aus