Der Prozess vor der Ersten Großen Jugendkammer des Landgerichts Waldshut-Tiengen gegen einen 45-Jährigen wegen des Missbrauchs von Kindern in mehr als 25 Fällen muss möglicherweise noch einmal in die Beweisaufnahme eintreten. Sascha Böttner, der aus Hamburg angereiste Verteidiger des Angeklagten, hat angekündigt, am Freitag im Rahmen seines Schlussplädoyers ein psychiatrisches Gutachten über das Opfer der Missbrauchstaten anzufordern. Diese sollen sich zwischen 2018 und 2020 in einem Dorf im Norden des Landkreises Waldshut ereignet haben.

Auf die Einschätzung des Gutachters verzichten will er nur, wenn Martin Hauser, der Vorsitzende der Jugendkammer, am Montag einen Freispruch für seinen Mandanten verkündet.

Anwalt rechnet mit einem Freispruch

Dass er fest mit einem Freispruch rechnet, hatte der Rechtsanwalt am Donnerstag, 26. Juni, mehrfach gesagt. Einen hörbaren Knacks hat sein Optimismus aber bekommen, als Rechtspsychologe Kenan Alkan-Mewes gegen Ende der Beweissicherung das Opfer der Missbrauchsfälle – die 2006 geborene Tochter des Angeklagten – als glaubwürdig einstufte.

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Böttner sieht das ganz anders. Er kündigte an, seinen Beweisantrag mit einer ganzen Litanei an Aussagen der jungen Frau zu unterfüttern, die sich im Laufe der Jahre erheblich verändert hatten. Alkan-Mewes hatte argumentiert, dass die Kernaussagen der jungen Frau zu den Hauptvorwürfen gegen ihren Vater in all den Jahren konstant geblieben seien.

Gutachter: Aussagen des Opfers sind glaubwürdig

Die Fragestellung der Staatsanwaltschaft an den Gutachter könnte aus dem Lehrbuch für formvollendetes Beamtendeutsch stammen, drückt aber nach Darstellung des Gutachters exakt aus, was er zu tun hatte: „Könnte NN mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüsse Dritter ihre spezifischen Aussagen machen, ohne einen eigenen Erlebnishintergrund zu haben?“

Die Antwort des Gutachters war eindeutig, nachdem er anhand einer ganzen Reihe von Parametern ausgeschlossen hatte, dass das Opfer bewusst gelogen hatte und auch, dass Suggestionen zu einer falschen Wahrnehmung geführt hatten. Die Frage könne mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Nein beantwortet werden. Es müsse mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Wahrannahme ausgegangen werden.

Das sagen Großmutter und Partnerin des Angeklagten

Das dürfte überhaupt nicht im Sinne der beiden Zeuginnen gewesen sein, die dem Gericht am Donnerstag zuvor jeweils mehrere Stunden lang Rede und Antwort standen. Im Zeugenstand Platz genommen hatten zunächst die inzwischen mehr als 80-jährige Großmutter des Angeklagten und Uroma des Opfers sowie die Lebenspartnerin des Angeklagten.

Das Paar lebte von 2014 bis 2021 mit der Seniorin in deren Haus in dem kleinen Schwarzwalddorf. In den Ferien hatte die Urenkelin ihre Uroma mehrmals im Jahr besucht. Dabei kam es bei den ersten Besuchen zu keinen Begegnungen mit dem im Obergeschoss lebenden Vater.

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Sie habe sich sehr gefreut, so erinnert sich jetzt die Lebenspartnerin, als die Tochter 2015 erstmals zum Vater ins Obergeschoss durfte. Von da an pendelte sie von Wohnung zu Wohnung. Man habe sich stets bemüht, dem Mädchen den Aufenthalt in dem kleinen Dorf so angenehm wie möglich zu machen, berichten die Großmutter und die Partnerin des Angeklagten gleichermaßen.

Zeuginnen: Angeklagte war nie lange allein mit Opfer

Häufig habe man das Mädchen am ersten Tag ihres Besuchs in Waldshut oder Tiengen neu einkleiden müssen, weil es mit verwaschenen und zu kleinen Textilien aus dem Kreis Singen angereist kam. In etlichen Details widersprachen sich die Aussagen der beiden Frauen zwar, in der Kernaussage aber passte kein Stück Papier zwischen die beiden.

Großmutter: Mädchen hat die Familie zerstört

Der Angeklagte und das Opfer seien nie so lange allein gewesen, dass es zu sexuellen Übergriffen habe kommen können. Die Uroma bekannte, mit ihrer Urenkelin nichts mehr zu tun haben zu wollen. Das Mädchen habe die Familie zerstört.

Und auch die seit 2018 zunächst kranke und ab 2019 erwerbsunfähige Lebenspartnerin meinte, vom Opfer schwer enttäuscht worden zu sein. Von den Vorwürfen, so die beiden Frauen gleichlautend, habe man erst erfahren, als die Polizei für eine Hausdurchsuchung im Hof stand.

Das sagen die Freundinnen des Opfers

Wohl ebenso ungläubig wie die beiden Frauen beim Besuch der Polizei 2020 haben ganz offensichtlich im Kreis Konstanz eine Freundin des Opfers und deren beide Schwestern einige Wochen zuvor drein geblickt, als das Opfer in Andeutungen erzählte, was ihr über Jahre hinweg in dem Schwarzwalddorf widerfahren war.

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Um ihre Glaubwürdigkeit zu untermauern, rief das Opfer im Beisein von zweien der Schwestern ihren Vater an und fragte diesen, ob sie gemeinsam shoppen gehen können. „Du weißt, was Du tun musst, damit wir shoppen gehen“, soll der Vater am Telefon geantwortet haben. So jedenfalls berichteten es die drei Geschwister unabhängig voneinander am Mittwoch im Zeugenstand.

Für Anwalt Böttner ist diese Aussage ein Beleg dafür, dass es nicht um einen Fall von sexuellem Missbrauch von Kindern gehe, sondern um einen Fall von Kinderprostitution. In einem Telefonchat beteuerten sich damals übrigens Vater und Tochter ihre gegenseitige Liebe.

Fällt ein Urteil oder geht der Prozess weiter?

Der Prozess gegen den 45 Jahre alten Angeklagten wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs von Kindern in 25 Fällen, des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen, des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in einem Fall und des schweren sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in vier Fällen in Tateinheit mit Vergewaltigung sollte eigentlich am Montag mit der Urteilsverkündung zu Ende gehen.

Gut möglich aber ist, dass noch einmal in die Beweisaufnahme eingetreten werden muss.

So lief die bisherige Verhandlung

Erster Prozesstag: Das wird dem Angeklagten vorgeworfen

Zweiter Prozesstag: Das Opfer sagt mehr als drei Stunden aus