Mit welchen Folgeerscheinungen bekommen es die Betriebe zu tun, wenn die „Generation Corona“ nun eine Berufsausbildung startet? Muss aufgrund der mit der Pandemie möglicherweise sogar das ganze Thema Berufsausbildung ganz anders gedacht und konzeptioniert werden – analog zu vielen anderen Veränderungen in der Arbeitswelt, die Corona mit sich gebracht hat?
Derartige Fragen beschäftigen alle Beteiligten des Ausbildungsmarktes am Beginn des neuen Ausbildungsjahres intensiv, wie Arbeitsagentur Lörrach, Industrie- und Handelskammer (IHK) Hochrhein-Bodensee und der Handwerkskammer Konstanz unserer Zeitung auf Nachfrage berichten.
Defizite vor allem in praktischer Hinsicht
Tatsächlich seien bei den Schulabgängern, die nun eine Ausbildung beginnen, vor allem Defizite praktischer Natur feststellbar, wie Melanie Payer, Pressesprecherin der Arbeitsagentur Lörrach, darstellt. Aufgrund der Pandemie-bedingten Einschränkungen hätten Jugendliche in den vergangenen zwei Jahren kaum bis gar keine Gelegenheit gehabt, durch Praktika Erfahrungen und Einblicke in Berufe zu sammeln: „Diese fehlenden Erfahrungen und die damit verbundenen fehlenden berufsfachlichen Kompetenzen tragen erheblich zu Unsicherheiten bei der Berufswahl bei.“
Laut IHK und Handwerkskammer setzten sich Trends merklich fort, die bereits vor Corona für Bedenken bei vielen Arbeitgebern gesorgt hätten, schildert Alexandra Thoss, Geschäftsführerin für den Bereich Ausbildung bei der IHK. Augenfällige Defizite gebe es demnach bei Rechtschreibung und Grammatik der Schulabsolventen.
Sehr viel auffälliger sei aber das wesentlich stärkere Selbstbewusstsein, mit dem Auszubildende in heutiger Zeit auftreten: „Die Auszubildenden fordern und erwarten mehr. Für sie ist es wichtig, ernst genommen zu werden und dass man sich um sie kümmert“, so Thoss weiter. Das sei positiv und gleichermaßen auf das Zusammenspiel von Zeitgeist und Fachkräftemangel zurückzuführen, der die Position der Azubis im Betrieb stärke.
Berufsausbildung hat ein Image-Problem
Aber Corona hin oder her – ein seit Jahren anhaltender Trend setzt sich auch in diesem Jahr fort: Die Bereitschaft, eine klassische Berufsausbildung anzustreben geht zurück. Das habe verschiedene Gründe – etwa der generelle Prestige-Verlust des Ausbildungsberufs, wie er in der Gesellschaft traurige Realität sei, bedauert Alexandra Thoss. Stattdessen ziehe es junge Leute zunehmend auf weiterführende Schulen oder ins Studium, oder sie überbrücken ein Jahr mit Freiwilligendienst oder anderen Angeboten.
Aus Sicht der Berufskammern handelt es sich durchaus um ein hausgemachtes Problem der Politik, die seit langem das Studium als erstrebenswertestes Ziel bewerbe, was bei jungen Leuten und auch deren Eltern auf sehr fruchtbaren Boden gefallen sei. Die Folgen dieser Entwicklung für den Arbeitsmarkt sind bereits an vielen Stellen sichtbar. Wenn jedes Jahr hunderte Lehrstellen unbesetzt blieben, ließen sich Personalengpässe nicht vermeiden.
Hier gelte es, gegenzusteuern, sagt Thoss: „Die Ausbildung ist keine Endstation, sondern kann die Basis für einen sehr vielseitigen Bildungsweg und eine spannende Karriere sein. Zum einen gibt es zahlreiche Fortbildungsmöglichkeiten, zum anderen die Option eines späteren Studiums.“ Dies in der Öffentlichkeit zu vermitteln, sei eine der großen Zukunftsaufgaben.
Weder alle Jugendlichen versorgt noch alle Lehrstellen besetzt
Dabei trifft es die Branchen keineswegs gleich hart. Die Handwerkskammer verzeichnet insgesamt sogar einen leichten Zuwachs bei den unterschriebenen Ausbildungsverträgen. 1524 Verträge seien laut Simone Warta im Zuständigkeitsbereich der Handwerkskammer Konstanz unterschrieben worden – sieben mehr als im Vorjahr. Und dennoch sind 350 Lehrstellen in 50 Berufen unbesetzt geblieben.
Überhaupt komme das Phänomen deutlich zum Tragen, dass Nachfrage und Angebot nicht übereinstimmen, wie Melanie Payer ausführt. Das heißt: Einige Branchen verzeichnen mehr Bewerber als es Ausbildungsplätze gibt. Dagegen können andere Branchen bei Weitem nicht alle Lehrstellen besetzen. Daraus ergibt sich die kuriose Situation, dass zum jetzigen Zeitpunkt noch hunderte Lehrstellen unbesetzt sind, gleichzeitig aber auch nicht alle Ausbildungswilligen einen Ausbildungsvertrag in der Tasche haben.
Im Landkreis Waldshut zum Beispiel sind von 764 Bewerbern 102 ohne Lehrstelle oder anderweitige Alternative geblieben. Gleichzeitig wurden 533 Lehrstellen nicht besetzt. Folglich kommen auf einen sogenannten „Unversorgten“ rechnerisch 5,23 unbesetzte Stellen, so Melanie Payer.
Systemrelevante Berufe und Dauerbrenner
Aufgrund der Corona-Erfahrungen erleben aber auch sogenannte „systemrelevante Branchen“ eine erhöhte Nachfrage, also die Bereiche des Geschäftslebens, die nicht so stark von Lockdowns und anderen Beschränkungen betroffen waren. Hierzu zählten gerade der Lebensmitteleinzelhandel und medizinische Fachberufe. Wenig Probleme bei der Nachwuchssuche haben auch Industriebetriebe. Auch Berufsbilder wie KfZ-Mechatroniker, Elektriker oder Zimmerer verzeichnen gute Nachfrage.
Derweil verliere gerade der Hotel- und Gaststättenbereich immer mehr an Interesse bei potentiellen Azubis: „Hier gibt es bereits deutliche Engpässe“, so Melanie Payer. Auch der stationäre Einzelhandel und körpernahe Dienstleistungen hätten es immer schwerer, Mitarbeiternachwuchs zu finden.
Andererseits verzeichnet die Arbeitsagentur weiterhin eine hohe Nachfrage von Jugendlichen an klassischen Berufen wie Friseur – gleichzeitig scheuen sich Unternehmen aber, Ausbildungsverhältnisse einzugehen, so lange die Gefahr weiterer Lockdowns gegeben ist.
Berufsorientierung unter erschwerten Bedingungen
Nicht zuletzt hat sich jedoch gezeigt, dass eine große Hürde die Kontaktaufnahme zwischen Schulabgängern und Betrieben aber auch die Berufsorientierung als solche durch die Pandemie extrem erschwert wurde. Berufsmessen oder Infoveranstaltungen an Schulen konnten nicht oder nur in sehr beschränktem Rahmen stattfinden. Praktika in Unternehmen gab es auch nur noch in Ausnahmefällen.
Umso mehr haben Arbeitsagentur als auch IHK und Handwerkskammer ihr digitales Info-Portfolio in den vergangenen Monaten massiv ausgebaut und einen stärkeren Fokus auf Angebote wie Bildungspartnerschaften mit Schulen oder die Ausbildungsbotschafter gelegt. Doch die Nutzungszahlen und -resonanz zeigen, dass hier noch einiges zu tun ist, um die anvisierte Zielgruppe zu erreichen.
Virtuelle Informationsmöglichkeiten und Hilfsangebote
Konsequenzen sind unvermeidbar
„Wir haben ein solides Ausbildungssystem in Deutschland“, betont Melanie Payer. Das habe sich unterm Strich auch während der Corona-Krise bewährt. Allerdings seien angesichts der unbestreitbaren Schwierigkeiten gewisse Anpassungen unvermeidbar.
So müssten sich die Unternehmen natürlich auch Mittel und Wege überlegen, wie sie für potentielle Bewerber attraktiv zu bleiben, sagt Payer. Eine zügige Rückkehr zu Praktika-Angeboten sei hier ein Weg. Denn häufig mangle es Jugendlichen einfach an der genauen Vorstellung, was sie in einem Beruf erwartet.
Daneben appelliert die Arbeitsagentur zu mehr Offenheit bei der Auswahl von Kandidaten für eine Ausbildung. Der Fokus der Firmen müsse über die reinen schulischen Leistungen hinausgehen: „Arbeitgebern empfehlen wir, verstärkt Praktika anzubieten und Social-Media-Kanäle in den Rekrutierungsprozess einzubeziehen“, so Payer.
Derweil spielt aus Sicht der Wirtschaft vor allem das Thema Digitalisierung eine immer gewichtigere Rolle. Das gelte unter den aktuellen Bedingungen für alle Bereiche von der Berufsorientierung bis zu organisatorischen wie inhaltlichen Abläufen der Ausbildung.
Das Digitale spiele nämlich eine immer gewichtigere Rolle in der Ausbildung. Im Handwerk wurden bereits erste Schritte eingeleitet. etwa zähle das Thema „Digitale Arbeitswelt“ seit 1. August offiziell zu den Standardberufspositionen, so Warta. So müssten Azubis in Ausbildungsbetrieben aller Gewerke während der Ausbildung Mindestanforderungen vermittelt und in den Ausbildungsplan eingebaut werden.
Nach Dafürhalten der IHK bieten sich durch hybride Ausbildungsmodelle sogar völlig neue Möglichkeiten für Angebote – wovon nicht zuletzt ländliche Regionen profitieren könnten. So müsste nicht mehr wie bisher zwingend eine Berufsschulklasse in einem bestimmten Berufsfeld zusammenkomme. Vielmehr könnte der Schulunterricht virtuell stattfinden, was Azubis auch möglicherweise lange Anfahrtswege erspare, so Alexandra Thoss.
Kammern: Motivation ist bei den meisten Ausbildungsstartern hoch
Es sei insgesamt deutlich feststellbar, dass Azubis und Schüler, die nun in Praktika starten, nach der langen Zeit des Home-Schoolings „richtig Lust“ hätten, Praxisluft zu schnuppern, schildert Simone Warta, Sprecherin der Handwerkskammer.
Ein Eindruck, den auch die IHK teilt: „Wir haben den Eindruck, dass die Auszubildenden froh sind, wieder in den Betrieb und in die Schule gehen zu können. Dort finden sie klare Strukturen vor. Der Online-Unterricht wurde durchaus kritisch gesehen“, sagt Alexandra Thoss.
Gleichwohl gibt es seitens der Arbeitsagentur wie auch von den Kammern Workshops und Abgebote auf verschiedenen Kanälen, mit denen der Start ins Berufsleben erleichtert werden soll – auch über dier Pandemie hinaus, denn: „Der Übergang von der Schule in eine Ausbildung ist immer schwierig und eine große Umstellung“, so Warta.
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