„In dem Moment, wo man an das Essen denkt, wird einem schlecht“, sagt Reinhard Wagner. Der 61-jährige Fachjournalist für Kameratechnik, der in der Nähe von Nürnberg wohnt, erinnert sich nicht gern an die Erfahrungen als Fünfjähriger im Bonndorfer Kindererholungsheim Johnen. Vergessen kann er sie nicht.

Während noch vor rund zehn Jahren ein nostalgischer Blick auf diese Heime geworfen wurde, werden sie heute deutlich kritischer betrachtet. Die Publizistin Anja Röhl schrieb schon 2009 in einer Zeitschrift über demütigende Erfahrungen. Erst ab etwa 2019 wurden diese Tatsachen einem breiteren Publikum bekannt.

Augenzeugen erinnern sich

Auch in Bonndorfer Erholungsheimen mussten Kinder unschöne Erfahrungen machen. Ende 2023 wies die „Badischen Neuesten Nachrichten“ in einem Beitrag über das Kurheim Steinabad auf Missstände hin. Die Zeitung hat jetzt in Reinhard Wagner und Effi Knoch aus Lohmar bei Köln zwei Augenzeugen gefunden, die aus dem Heim Johnen berichten können. Beide haben ihre Erinnerungen auch im Internet veröffentlicht.

Wilhelm und Marianne Johnen begründeten in den 1950er-Jahren ihr gleichnamiges Kinderheim an der Waldstraße.
Wilhelm und Marianne Johnen begründeten in den 1950er-Jahren ihr gleichnamiges Kinderheim an der Waldstraße. | Bild: Martha Weishaar

Die Vorwürfe an die Erholungsheime gleichen sich bundesweit. Die Verschickungskinder wurden zum Essen gezwungen, obwohl sie sich massiv ekelten. Die Speisen seien billig und schlecht gewesen, verkocht, angebrannt, kaum genießbar. Es gibt sogar vereinzelte Berichte, nach denen Kinder, die sich übergaben, ihr eigenes Erbrochenes auslöffeln mussten. Andere Vorwürfe: Drangsalieren, Prügelstrafen, qualvolle Bloßstellungen, teils sogar Kindesmissbrauch und Medikamentenversuche.

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Die schlimmsten Vorkommnisse sind aus Bonndorfer Heimen nicht bekannt. „Blanke Diktatur“ erlebte Reinhard Wagner dennoch im Heim Johnen. Und gnadenlosen Essenszwang: „Man saß da, bis aufgegessen war.“ Das fand auch Effi Knoch sehr schlimm: „Ich saß allein im Speisesaal und durfte nicht aufstehen, weil mein Teller nicht leer war.“ Sie schüttelt sich noch heute vor Ekel beim Gedanken an die Suppe mit diesem wabbeligen Fettklumpen. Denkt sie an die „Generäle“, so nennt sie die Aufsichten, sieht sie bis heute nur schreiende Münder.

Toilettenverbot im Schlafsaal

Gedemütigt wurden die Kinder auch im Schlafsaal. Nachts war es ihnen streng verboten, auf die Toilette zu gehen. Als der zierliche Reinhard Wagner diesen Gang in seiner Not trotzdem riskierte, wurde er von einer der Frauen abgefangen. Sie sperrte den Fünfjährigen dann im Schlafanzug bis zum Morgen in eine dunkle, eiskalte Besenkammer. Für Reinhard Wagner eine der schrecklichsten Erfahrungen. „Bis heute habe ich Probleme mit Dunkelheit“, berichtet er.

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Weil die Kinder nachts den Schlafsaal nicht verlassen durften, machten viele ins Bett und heulten sich in den Schlaf – was morgens ebenfalls bestraft wurde, durch öffentliches Bloßstellen. „Man musste zur Strafe neben dem Bett stehen bleiben, bis es frisch bezogen war“, weiß Effi Knoch noch, „und bis dahin die Hänseleien der anderen Kinder ertragen.“ Sie habe sehr viel geweint, einmal hat man sie im Keller vergessen und eingeschlossen. Sie hat im Heim Johnen erstmals Panikattacken erlebt, die sie zeitlebens verfolgten.

„Niemand wollte mir glauben“

Warum es so lange gedauert hat, bis die Wahrheit ans Licht kam, dafür hat Reinhard Wagner eine simple Erklärung: „Es hat einem ja keiner geglaubt.“ Er selbst hatte zuhause vom Heim Johnen berichtet, wurde aber nicht ernstgenommen. Seine Schwester, die in einem Heim in Oberbayern gewesen war, erzählte von den Schikanen erst 50 Jahre später. Effi Knoch hat dasselbe erlebt: „Egal, wem ich das damals gesagt habe, niemand wollte mir glauben.“

Reinhard Wagner will den Frauen, die ihn damals gequält haben, nichts vorwerfen. „Die hatten einfach keinen Plan“, sagt er, „die wurden beschäftigt als billige Arbeitskräfte und wussten nicht, was sie taten.“ Hass empfinde er nicht mehr. „Wenn ich heute noch eine der Tanten treffen würde“, erklärt Wagner, „dann würde ich ihr nur sagen, ihr habt Mist gebaut.“ Sein Fazit, und da stimmt ihm Effi Knoch sofort zu, ist eindeutig. „Wer mit Kindern zu tun hat, muss dafür solide ausgebildet und anständig bezahlt werden.“