Der 19. September 2010 war ein völlig unspektakulärer Spätsommertag – bis etwa 18 Uhr. Was anschließend geschah, brannte sich in mein Gedächtnis ein. Die Bilder bleiben und die Erinnerungen daran bewegen mich noch heute.
Als Urlaubsvertretung hatte ich an diesem Tag die Lokalredaktion in Rheinfelden betreut und saß nach Dienstende mit ein paar Freunden in einem Restaurant beim Essen. Der geplante gemütliche Ausklang des Wochenendes wurde es allerdings nicht.
Es war kurz vor 18.30 Uhr, als ich den Anruf bekam: „In Lörrach soll es gerade einen Amoklauf geben. Im Radio kam gerade eine Eilmeldung. Können Sie hinfahren?“, fragte mich der SÜDKURIER-Regionalleiter. „Ja, da muss ich wohl“, antwortete ich, ohne nachzudenken. Dienst ist schließlich Dienst. Ich warf noch einen Geldschein für die Restaurantrechnung auf den Tisch und machte mich auf den Weg nach Lörrach.
„Wo fahre ich hier eigentlich hin?“
Zum Nachdenken kam ich erst, als ich im Auto saß: Im Radio gab der Lörracher SWR-Studioleiter gerade per Telefon eine erste Einschätzung ab. Er berichtete von Schüssen in der Innenstadt, einer Explosion und mehreren Toten. Die Polizei habe die Umgebung von Busbahnhof und St. Elisabethen-Krankenhaus abgeriegelt, aber noch keine Entwarnung gegeben. „Wo fahre ich hier eigentlich hin? Das ist ja noch gar nicht zu Ende! Was bekomme ich gleich zu sehen?“ schossen mir zum ersten Mal Fragen durch den Kopf, die mich erschaudern ließen.

Als Journalist hatte ich damals ja schon einiges zu sehen und zu hören bekommen: Schwere Unfälle, Großbrände, Zeugenaussagen im Mordprozess. Über schwere Schicksalsschläge zu schreiben, belastet natürlich. Aber man lernt, damit umzugehen. Doch das, was ich nun über den Amoklauf hörte, stellte alles in den Schatten und traf mich völlig unvermittelt.
Die nötige Distanz finden
Einen kurzen Moment zögerte ich, doch es gelang mir erstaunlich schnell, die professionelle Distanz zu den Ereignissen zu gewinnen und mich wieder auf meine Arbeit zu fokussieren: Ich nahm telefonisch Kontakt zur Redaktion auf und klärte den weiteren Ablauf. Wann ist Redaktionsschluss? Wie kann ich meine Informationen, Eindrücke und Bilder übermitteln? Eindeutige Absprachen und klare Fakten. Das gab mir Orientierung auf dem Weg ins Ungewisse.
Im Bereich des Tatorts traf ich auf ein Großaufgebot an Polizeikräften. An den Polizeisperren fragte ich mich zum Pressesprecher der Lörracher Polizei durch, der in einem Pavillon am Busbahnhof die Medienvertreter pausenlos über den aktuellen Stand informierte. Zwischenzeitlich gab es Entwarnung, die Täterin war wohl bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben gekommen. Die genaue Zahl der Opfer und das detaillierte Tatgeschehen kristallisierte sich allerdings erst in den nachfolgenden Stunden und Tagen heraus.
Sprechen, um das Erlebte zu verarbeiten
Den letzten Stand der Dinge übermittelte ich an diesem Sonntagabend telefonisch gegen 22.30 Uhr in die Konstanzer Politikredaktion, die die letzten Nachrichten für den Druck einarbeiteten. An Feierabend war für mich zu diesem Zeitpunkt aber noch lange nicht zu denken. Zu viele Fragen waren noch offen.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Amokläufen wurde dieser von einer Frau begangen. Gab es ein Motiv? Wie kam es zu dieser schrecklichen Tat? Wie kam es überhaupt zur Explosion in der Wohnung? Warum schoss die Frau ausgerechnet in der Geburtsabteilung des St. Elisabethen-Krankenhauses um sich, in deren direkter Nachbarschaft sie wohnte? Und wer war die Frau? Wie erlebten die Lörracher diese Stunden?
An der Absperrung zur Markus-Pflüger-Straße berichteten Augenzeugen von ihren Beobachtungen. Alle Beteiligten mussten über die furchtbaren Ereignisse sprechen, um sie zu verarbeiten. Ein gefundenes Fressen vor allem für die Boulevardmedien. Immer wieder verbreiteten sich auch Gerüchte, ausgelöst durch Spekulationen von vermeintlichen Augenzeugen. Als ich tief in der Nacht zu Hause ankam, begann ich ein Gedächtnisprotokoll anzufertigen, um sämtliche Informationsfetzen einzuordnen. Statt wie andere über das Erlebte zu reden, begann ich zu schreiben.
Klare Strukturen
Absolut beeindruckend war für mich an diesem Abend die Professionalität der Einsatzkräfte der Hilfsorganisationen. Innerhalb kürzester Zeit bauten hunderte Helfer ein kleines Zeltdorf am Busbahnhof auf, um Betroffene, Nachbarn und Angehörige zu betreuen. Von chaotischen Zuständen war an diesem Sonntagabend nichts zu spüren. Das Lagezentrum war im Lörracher Rathaus untergebracht. Im Kreistagssaal fanden die Pressekonferenzen statt, die immer voller wurden, weil aus dem ganzen Bundesgebiet und der Schweiz stündlich mehr Medienvertreter kamen.

Bis ins kleinste Detail schien der Ablauf einer solchen Lage geplant zu sein. Selbst belegte Brötchen für die unzähligen Helfer standen bereit. Die professionelle Vorbereitung der Helfer war kein Zufall: Anderthalb Jahre vor Lörrach hatte ein Amoklauf in Winnenden mit 16 Toten für bundesweite Schlagzeilen gesorgt. Für Polizei, Behörden und Rettungsorganisationen ein Anlass, Einsatzpläne für ähnliche Ereignisse zu entwerfen. Mit Erfolg, wie sich in Lörrach zeigte.
Die Tage danach
Erst Tage später begann ich, die Tat für mich selbst zu verarbeiten. Hatte ich mich tagelang fast nüchtern an den bloßen Fakten orientiert über die neuesten Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft berichtet, war ich plötzlich zutiefst erschüttert. Als sich nämlich herausstellte, dass die tödlichen Schüsse kein spontaner Amoklauf der Täterin in einer subjektiv ausweglosen Situation waren, sondern kaltblütig geplant.

Auch das Feuer war bewusst herbeigeführt: Kanisterweise hatte die 41-Jährige Lösungsmittel aus dem Baumarkt gehortet, um es an diesem Abend zur Explosion zu bringen. Ihren eigenen fünfjährigen Sohn hatte sie zuvor eigenhändig erstickt. Im Nachhinein bin ich sogar ein wenig erschrocken, wie es mir über Tage gelungen war, so wenig dieser grausamen Tat an mich heranzulassen.
„Einen Amoklauf erlebst Du als Journalist höchstens einmal in deiner Laufbahn. Du hast es jetzt hinter dir“, hat ein Kollege ein paar Wochen später zu mir gesagt. Ich hoffe, er hat recht.
Dieser Artikel wurde erstmals am 19. September 2020 veröffentlicht.