Frau Kretschmer, seit ein paar Wochen leben Sie nicht mehr mit Ihrem Mann alleine in ihrem Haus. Was hat sich verändert?
Einiges. Jetzt ist wieder Leben im Haus. Wir kümmern uns darum, dass unsere neuen Mitbewohner sich gut einleben können. Hier und da unterstützen wir, beispielsweise bei dem Ausfüllen von Anträgen oder Anmeldungen. Und natürlich gehört es auch dazu, dass wir aufeinander Rücksicht nehmen. So lebt es sich ja prinzipiell gut.
Herr Kretschmer, Sie haben sich relativ früh entschieden, in Ihrer Einliegerwohnung eine ukrainische Familie aufzunehmen. Was hat für Sie beide den Ausschlag gegeben, aktiv zu werden?
Zunächst mal waren es die schrecklichen Bilder im Fernsehen. Als wir die Kinder und Frauen auf der Flucht gesehen haben, sind wir leider auch an unsere Kindheit erinnert worden. Meine Mutter musste mit mir und meinen Geschwistern im zweiten Weltkrieg aus Schlesien fliehen. Bei der Familie meiner Frau war es ähnlich. Die Familie floh aus Danzig. Die Bedingungen waren damals für viele Familien, die zwangsweise auf Bauernhöfen oder Ähnlichem einquartiert wurden, nicht immer gut. Für uns war aber unabhängig davon klar, wir wollen einen Beitrag leisten, dass sich bei uns jemand willkommen und gut aufgehoben fühlt. Außerdem hat uns beeindruckt, wie Polen die Menschen aufnimmt. Wenn jeder einen kleinen Beitrag leistet, ist hier ganz viel getan.
Waren Sie, Frau Kretschmer und Ihr Mann sich denn gleich einig, dass Sie Wohnraum zur Verfügung stellen wollen?
Ich erinnere mich, dass wir am Abend noch darüber gesprochen haben. Zu dem Zeitpunkt haben wir noch gedacht, dass die Wohnung in unserem Haus, in der meine Mutter bis vor zwei Jahren gewohnt hatte, vorher geräumt und renoviert werden muss. Mein Mann und ich haben dann vereinbart, eine Nacht darüber zu schlafen. Am nächsten Morgen stand es für mich fest, dass wir jetzt bei der Gemeinde anrufen und uns offiziell melden. Dass die Wohnung noch komplett eingerichtet ist, war dann sogar ein Vorteil. Die Familie hat jetzt alles, was man braucht. Lediglich die Fenster mussten nach dem Sahara-Sand auf Vordermann gebracht werden (lacht).
Wie sind Sie weiter vorgegangen?
Harry Kretschmer: Wie gesagt, wir haben uns bei der Gemeinde gemeldet und wurden auf eine Liste gesetzt. Dann dachten wir eigentlich, es wird noch etwas dauern, bis es wirklich zu einer Unterbringung kommt. Doch schon am nächsten Tag kam die Information, dass im Nachbarort eine Mutter mit zwei Kindern wohnt, für die eine entsprechend große Wohnung benötigt wird. Zwei Tage später sind unsere neuen Mieter eingezogen.
Wie haben Sie das empfunden, dass es so schnell ging?
Rotraut Kretschmer: Wir wurden überrumpelt, aber positiv. Von einem Tag auf den anderen ging es los. Das war gut so. Unsere Sorge war eigentlich nur, dass wir die Wohnung noch putzen wollten. Und wir wollten noch schnell den Kühlschrank füllen, dass die Familie alles hat. Milch, Eier, Butter, Kleinigkeiten, die man braucht, sollten da sein. Doch die Familie war und ist sehr selbstständig. Der Einzug und das Kennenlernen verliefen absolut unkompliziert und harmonisch.
Man nimmt sich sicher einiges vor, was man anbieten will, wie man im Alltag unterstützen will. Inwieweit unterscheiden sich Ihre Vorstellungen von dem, was dann wirklich gefragt war?
Harry Kretschmer: Natürlich überlegt man vorher, was man alles tun kann. Doch dadurch, dass wir vorab informiert wurden, dass die Familie sehr selbstständig ist, haben wir uns zurückgehalten. Wir drängen uns oder unsere Hilfsbereitschaft nicht auf. Wenn wir mit unserem Hund spazieren gehen, fragen wir manchmal, ob jemand mitgehen möchte und wir sind da, wenn es um Anträge geht. Wir bieten an, mit der Mutter einkaufen zu gehen. Ein Arztbesuch stand auch schon an. Bei solchen Terminen ist es gut, wenn jemand dabei ist. Ansonsten wissen alle drei, wir sind da, wenn Hilfe benötigt wird.
Wie hat Ihr direktes Umfeld reagiert?
Rotraut Kretschmer: Nur positiv. Alle haben uns bestärkt und gesagt, das ist richtig. Unsere Tochter und unser Sohn waren auch begeistert. Alle finden es so toll. Aber wir haben das nicht gemacht, damit alle es toll finden. Es war uns ein Bedürfnis. Dennoch ist es fantastisch zu sehen, wie offen unsere Umgebung auf die Familie reagiert. Zusammen mit unseren Nachbarkindern und den ukrainischen Kindern wird auf der Straße Fußball gespielt. Es ist von beiden Seiten sehr viel Offenheit dabei. Das macht es natürlich einfach, sich kennenzulernen und füreinander da zu sein.
Wie unterhalten Sie sich eigentlich?
Rotraut Kretschmer: Momentan noch mit Händen und Füßen (lacht). Und mit einer Übersetzungs-App. Das ist toll, man kann sich auf diese Weise richtig gut unterhalten. Ab und zu kommen lustige Übersetzungen raus, aber dann haben wir alle was zu lachen. Etwas Englisch-Kenntnisse sind auch vorhanden und das Verständnis für Deutsch wird immer besser. Wenn ich langsam deutsch mit der Mutter rede, versteht sie viel oder sie ahnt, was ich sagen will. Jetzt hoffen wir, dass es weiterhin so gut läuft und, dass sich der Wunsch der Mutter bald erfüllen kann, sich hier eine Arbeit zu suchen. Das wäre ein toller Erfolg.
Viele haben genau hier Angst, vor der sprachlichen Barriere.
Harry Kretschmer: Das ist unnötig und war nie ein Problem. Die Programme sind wirklich super und alle geben sich Mühe. Seit dieser Woche wird hier im Ort ein von der Kirchengemeinde organisierter Sprachkurs angeboten. Ehrenamtliche unterrichten die ukrainischen Flüchtlinge in Küssaberg jeden Tag für zwei Stunden. Wir sind uns sicher, es geht sehr schnell, und wir benötigen die Übersetzungs-App nur noch selten.
Empfinden Sie Ihr Privatleben jetzt anders?
Harry Kretschmer: Eigentlich nicht. Gut, man merkt, es ist jemand im Haus. Aber es ist keine Belastung. Es kommt mal ein Termin dazwischen, dass jemand gefahren werden muss. Das war es aber auch. Wir empfinden es eher andersrum: Es ist schön, dass sie da sind. Wenn meine Frau kocht, bringt sie gerne ein „Versucherle“ hoch und umgekehrt ist es auch schon so. Heute wartet noch ein leckerer Salat auf uns (lacht). Als wir gemeinsam den Mietvertrag unterschrieben haben, der empfohlen wird, haben wir zusammen ein Glas Sekt getrunken. Das ist doch toll.
Gab es schon einen besonderen Schlüsselmoment, an den Sie und Ihr Mann sich sicher immer erinnern werden?
Harry Kretschmer: Ja (lacht). Gleich am ersten Tag haben sie sich aus der Wohnung ausgesperrt. Der Schlüssel steckte von innen. Da kam niemand mehr rein. Das war gleich zum Anfang eine unglaubliche Aufregung, die wir sicher alle nicht so schnell vergessen werden.
Jetzt, wo eine ukrainische Familie bei Ihnen wohnt, wie empfinden Sie die Nachrichten aus der Kriegsregion? Hat sich da etwas verändert?
Rotraut Kretschmer: Prinzipiell hat sich nichts verändert. Die Bilder waren und sind schlimm. Allerdings interessiert man sich mehr für das Land im Allgemeinen. Wo liegen die Städte, von denen man in den Nachrichten hört? Wie weit sind sie von der Heimat der Familie, die bei uns wohnt, entfernt? Wo genau sind die aktuellen Angriffe? Es ist persönlicher geworden. Es ist nicht unsere Heimat, die zerstört wird, aber die unserer Freunde. Es ist kein fremder Krieg mehr.
Abschließend eine ganz andere Frage. Was haben Sie und Ihr Mann in diesem Jahr für sich selbst geplant?
Harry Kretschmer: Unser Hobby ist Singen im Kirchenchor Waldshut. Jetzt, nach der Pandemie, dürfen wir das ja endlich wieder. Da freuen wir uns sehr. In diesem Sommer ist auch schon die Reise nach Südfrankreich gebucht, eines unserer Lieblingsziele. Und wir wollen unsere Familie in Hessen besuchen. Jetzt waren wir schon zwei Jahre nicht mehr da. Das werden wir wieder garantiert bald nachholen. Und wir lieben die Spaziergänge mit unserem Hund.
Fragen: Tina Prause