Murg Es ist ein erster wichtiger Schritt in die Öffentlichkeit: Gemeinderätin Lisa Timpe, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, und Julia Lüthi, Leiterin der Kita in der Mühle, informierten in der Gemeinderatssitzung in Murg darüber, dass in den Kindergärten der Gemeinde die Anzahl der Kinder mit aggressivem Verhalten stetig zunimmt.

Keine heile Welt im ländlichen Raum, sondern Bestätigung von Studienergebnissen: „Psychische Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter sind häufig und gelten als eine der großen Herausforderungen in der Kindergesundheit“, so Timpe. In Zahlen: 17,2 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland zeigen demnach diagnostisch oder klinisch bedeutsame Hinweise auf psychische Auffälligkeiten. International gesehen bedeuten diese Zahlen laut Unicef-Bericht vom Mai, dass das Wohlbefinden von Kindern in Deutschland im Vergleich zu den reichsten Ländern zurückgefallen ist: Deutschland ist von Platz 14 auf 25 abgerutscht.

Aus dieser Situation heraus initiierten Timpe und Lüthi das Kooperationsprojekt „Psychosoziale Beratung in Kindertagesstätten“, in das im Vorfeld alle acht Kindergärten der Gemeinde und die Verwaltung eingebunden waren. Die Bestandsaufnahme ergab: „Wir gehen davon aus, dass pro Gruppe zwei Kinder eine 1:1 Betreuung brauchen“, erklärte Lüthi. Mit entsprechenden Folgen auf den drei Ebenen Eltern, Kinder, Fachkräfte. Der Aufwand für Beobachtung, Dokumentation und Gespräche steige, für die Kinder wiederum beginne ein langer Weg. Mitunter dauere es eineinhalb Jahre, bis das jeweilige Kind die erforderliche fachliche Betreuung erhält. In dieser Situation kämen die pädagogischen Fachkräfte nach und nach an ihre Grenzen. „Die Not ist groß, und bis fachliche Hilfe von außen kommt, dauert es zu lange“, verweist Lüthi auf die Situation im Landkreis Waldshut: zu wenige psychosoziale Fachkräfte, zu wenige Beratungsstellen.

Für die Murger Kindergärten schlagen die Projektpartner in einem ersten Schritt unter anderem folgende Lösungsansätze vor: In einer regelmäßigen Sprechstunde durch Lisa Timpe erhalten Eltern eine niederschwellige psychosoziale Beratung. Den pädagogischen Fachkräften in der Kita wird zusätzliches Wissen zum Thema Erziehung vermittelt und durch Timpe zu psychischen Erkrankungen. Ein weiterer Wunsch ist der Aufbau eines Netzwerks, sprich: die Stärkung der Zusammenarbeit zwischen Kitas, Jugendhilfe, Gesundheitswesen und Verwaltung auf kommunaler und auf Kreisebene. Ein großes Anliegen ist den Projektpartnern außerdem die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für den Bedarf eines derartigen Angebots wie auch die Entstigmatisierung des Themas „Psychische Gesundheit/Krankheit“, das immer noch mit viel Scham behaftet sei.

Dass der eingeschlagene Weg der richtige ist, bestätigten die Reaktionen aus dem Gemeinderat. Vielen war die Situation vor Ort in den Kitas nicht bewusst. Der Gemeinderat will das Projekt weiter unterstützen und Fördermöglichkeiten prüfen. Klar ist schon, dass Lisa Timpes ehrenamtlicher Einsatz keine Dauerlösung sein kann. „Wir werden irgendwann und irgendwo eine zentrale Stelle schaffen müssen“, so Rat Georg Kirschbaum (SPD). Er verwies außerdem auf das Sozialgesetzbuch, das viele der sozialen Aufgaben den Landkreisen zuordnet: „Da sind Gespräche erforderlich.“ Auch Timpe bestätigte unter Verweis auf die „eklatante Versorgungslage“ im Kreis Waldshut: „Man muss größer denken.“ Rat Klaus Bossert (Die Grünen) sieht neben der administrativen Ebene als größten Knackpunkt die Eltern: „Bis die Eltern einsehen, dass das Kind Hilfe braucht, ist es eine enorme Arbeit.“