Der ehemaligen Reichsstadt Überlingen heftet das Etikett an, im Bauernkrieg von 1524/25 „rücksichtslos, brutal und bauernfeindlich“ gewesen zu sein. Im Rathaus zeugen drastische Darstellungen davon, wie stolz die Stadtväter darauf waren, 15 Anführer der „Sernatinger Meuterei“ geköpft zu haben – wofür der Habsburger Kaiser Karl V. Überlingen drei Jahre nach den Ereignissen, 1528, als Dank jenes prachtvolle „gebesserte Wappen“ verlieh, das die Stadt seither und bis heute verwendet.

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Verantwortlich dafür, dass Wissenschaftler wie der „sehr renommierte angelsächsische Historiker“ Tom Scott Überlingen für den Prototyp einer „hard-line City“ halten, ist eine einzige Quelle, wie der Münchner Historiker Peer Frieß jetzt in einem Vortrag ausführte: Die berühmte „Zimmerische Chronik“, jene zwischen 1540 und 1566 in Schloß Meßkirch entstandene Familiengeschichte der Herren von Zimmern.

Politik der Reichsstadt war keinesfalls bauernfeindlich

Innerhalb der vom Kreiskulturamt veranstalteten Vortragsreihe zu „500 Jahren Bauernkrieg am nördlichen Bodensee“ korrigierte Frieß, Experte für die Oberschwäbischen Reichsstädte und den Bauernkrieg, die Sichtweise auf den Umgang Überlingens mit den aufständischen Bauern grundlegend. In einem brillanten und am Ende lange beklatschten Vortrag im Museumssaal wies er nach, dass die Zimmerische Chronik bisher falsch interpretiert wurde.

Ebenso erläuterte er anhand von Quellen, dass die dokumentierte Politik der oberschwäbischen Reichsstadt Überlingen keinesfalls bauernfeindlich war. So halte er „das Etikett einer blutrünstigen bauernfeindlichen hard-line City, das man der Reichsstadt Überlingen angeheftet hatte, dieses Klischee, nicht mehr für passend“, fasste Frieß am Ende seiner Ausführungen zusammen.

Der Münchner Historiker Peer Frieß referierte im Überlinger Ratssaal zur Rolle Überlingens im Bauernkrieg.
Der Münchner Historiker Peer Frieß referierte im Überlinger Ratssaal zur Rolle Überlingens im Bauernkrieg. | Bild: Martin Baur

Zimmerische Chronik spricht von Unrecht

„Nach Beendigung des bäuerlichen Aufruhrs haben die Überlinger einige ehrbare Männer aus Sernatingen (…) ohne jede Barmerzigkeit oder vorausgehende Verhöre und Verhandlungen auf dem Sernatinger Bühl enthaupten lassen. Es heißt, dass ihnen Unrecht geschehen sei.“ So lautet neuhochdeutsch ein Teil dessen, was der Verfasser der Zimmerischen Chronik, Froben Christoph von Zimmern, über das Verhalten der Überlinger Mitte des 16. Jahrhunderts schrieb.

Diese Passage werde immer wieder zitiert und führe bis heute dazu, die Reichsstadt Überlingen eben als rücksichtslos, brutal und bauernfeindlich darzustellen. Bei seiner Erforschung der Politik der oberschwäbischen Reichsstädte im Bauernkrieg habe er nicht nur die einschlägigen Publikationen gelesen, so Frieß, sondern eben auch die Originaldokumente in den Archiven in Lindau und Memmingen, in Ravensburg und Stuttgart und vor allem hier in Überlingen. „Dabei kamen mir die ersten Zweifel.“

Gegenbild zu den eigenen vermeintlichen Wohltaten

Denn der zitierte Abschnitt sei eingebettet in eine längere Darstellung des Wirkens von Johannes Werner von Zimmern, dem Vater des Autors. Nach dem Aufstieg des Hauses in den Grafenstand 1538 sollten kommende Generationen Belege für Herkunft, Besitzstand und den Adel der Familie erhalten. Daher habe Froben Christoph seinen Vater Johannes Werner für dessen Mildtätigkeit gegenüber den aufständischen eigenen Bauern in der Herrschaft Meßkirch gelobt. In diesem Zusammenhang finde sich der Hinweis, dass andere Obrigkeiten gräulich gewütet hätten. „Als konkretes Beispiel für dieses gräuliche Wüten, gleichsam als Gegenbild, wird das Beispiel der Reichsstadt Überlingen erzählt“, führte Frieß aus.

Die Handschrift B der Zimmerischen Chronik. Sie entstand zwischen 1540 und 1566 auf Schloss Meßkirch, Verfasser ist Froben Christoph von ...
Die Handschrift B der Zimmerischen Chronik. Sie entstand zwischen 1540 und 1566 auf Schloss Meßkirch, Verfasser ist Froben Christoph von Zimmern (1519 bis 1566). Heute liegt die Familienchronik der schwäbischen Adelsfamilie in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart. | Bild: DPA

Was in der Zimmerschen Chronik behauptet werde, passe nicht zu dem, was in den zeitgenössischen Quellen stehe. Zwar gab es die Hinrichtungen im Zusammenhang mit der „Sernatinger Meuterei“ tatsächlich, aber nicht nach, sondern während des Bauernkrieges. Und es waren auch nicht 20 Rädelsführer, sondern sieben wurden sofort geköpft und acht später. Schließlich unterstelle Froben Christoph von Zimmern den Vorfällen in Sernatingen auch noch eine konfessionelle Komponente: auch die „neue Religion“ sei ein Grund für die Hinrichtungen gewesen.

„Im Vergleich zum tatsächlich blutrünstigen Auftreten eines Mark Sittich von Ems, der wenige Wochen später 50 gefangene Bauern einfach so aufhängen ließ oder den Massakern der von Georg Truchseß von Waldburg befehligten Truppen des Schwäbischen Bundes, denen Tausende zum Opfer fielen, nimmt sich das eher moderat aus. So sehr jeder einzelne Tote natürlich zu bedauern ist.“

Frieß spricht von einer „defensiven Politik“

Während der bäuerlichen Erhebung 1524/25 sei es den Überlingern vor allem darum gegangen, im eigenen Territorium und den angrenzenden Nachbarschaften eine ungestörte landwirtschaftliche Produktion zu sichern, fasst Frieß am Ende seiner Ausführungen zusammen. Störungen habe man mit allen Mitteln zu vermeiden versucht. Frieß spricht von einer „auf Schadensminimierung ausgerichteten, defensiven Politik“. Überlingen habe zunächst immer zum Mittel der Verhandlung und Kompromisssuche gegriffen, „stets verbunden mit einer Demonstration zur Handlungsbereitschaft“. Die Ratsherren seien auch bereit gewesen, im lokalen Umfeld als Schlichter zu agieren.

Charakteristisch ist dabei eine große Angst der Ratsherren vor dem Verlust der Loyalität der Mitbürger in der Stadt und vor allem der Untertanen auf dem Land. Dies könne auch das harte Vorgehen gegen die in Sernatingen meuternden Truppen Ende Mai erklären. In dem Moment, in dem die Stellung der Obrigkeit gefährdet war, endete jede Bereitschaft zum Kompromiss. Wenn man also die Politik der Überlinger mit einem Etikett versehen wolle, dann nicht „hard-line City“, sondern „Überlingen first“.

Das einfache alte Wappen der Reichsstadt Überlingen.
Das einfache alte Wappen der Reichsstadt Überlingen. | Bild: Martin Baur
Und das prachtvolle „gebesserte Wappen“, das Kaiser Karl V. Überlingen als Dank für die Loyalität im Bauernkrieg 1528 verlieh. Diese ...
Und das prachtvolle „gebesserte Wappen“, das Kaiser Karl V. Überlingen als Dank für die Loyalität im Bauernkrieg 1528 verlieh. Diese Darstellung stammt aus dem Wappenbrief, die Urkunde datiert auf den 3. Februar 1528 und wurde im spanischen Burgos ausgestellt. | Bild: Martin Baur

Wappenbesserung als billigste Art von Anerkennung

Den Habsburgern habe das gar nicht gefallen. Auf einer Versammlung des Schwäbischen Bundes musste sich der Vertreter Überlingens heftige Vorwürfe anhören, weil sie ein Stillhalteabkommen mit den Hegauer Bauern geschlossen hatten und dem belagerten Radolfzell nicht zu Hilfe gekommen sind. In den folgenden Monaten habe sich die Stadt dann bemüht, ihre Kaisertreue zu unterstreichen.

Der von Kaiser Karl V. am 3. Februar 1528 im spanischen Burgos gewährte Gunstbeweis einer Wappenaufbesserung werde dann als großer Erfolg gefeiert und noch 200 Jahre später – als Intarsienbilder – im Rathaus werbewirksam präsentiert. „Tatsächlich ist so eine Wappenaufbesserung die billigste Form gewesen, mit der ein Herrscher sein Wohlwollen ausdrücken konnte“, sagte Frieß. „Es kostet Karl nichts.“ Wie viel Gulden die Stadt für das Wappen bezahlen musste, sei unbekannt. „Üblicherweise kostete das einiges.“