Die Stadt Wehr will beim Kampf gegen den Ärztemangel in die Offensive gehen. „Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, die Initiative zu ergreifen“, so Bürgermeister Michael Thater bei der Vorstellung eines Gutachtens des Beratungsunternehmens Ideenwelt Gesundheitsmarkt (IWG) im Gemeinderat. Vor allem weil die meisten der in Wehr praktizierenden Mediziner „bereits unmittelbar vor dem Renteneintrittsalter befinden oder dieses sogar schon überschritten haben“, entstehe nun akuter Handlungsbedarf. Allein vier Mediziner planen ihren Ruhestand in den nächsten fünf Jahren.
Konkret schlug Nazim Diehl vom Beratungsunternehmen IWG vor, für die Villa Rupp, die bekanntlich der Wehrer Bürgerstiftung gehört, ein „Vermarktungsexposé“ zu erstellen und die Praxisräume von Hussam Abbasi zu modernisieren, um sie für einen oder mehrere potentielle Nachfolger attraktiv zu machen. Die Stadt selbst müsse „aktive Ärzte-Akquise“ betreiben, um Nachfolger für die Mediziner zu finden, die in den Ruhestand gehen wollen. Dabei müssten ganz bewusst die Vorteile des Standorts Wehr beworben werden, aber auch die Wünsche geeigneter Kandidaten berücksichtigt werden. Denn sowohl die Erwartungen an die Ärzte als auch die Ansprüche und Bedürfnisse der Mediziner selbst habe sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert: Weil Frauen unter den jungen Medizinern mittlerweile in der Mehrheit sind, wird beispielsweise größerer Wert darauf gelegt, Beruf und Familie in Einklang zu bringen. 50 und 80 Wochenstunden zu arbeiten, sei für ältere Ärzte normal, für junge aber nicht erstrebenswert, so Diehl.
Als mittelfristige Maßnahme schlug Diehl die „Realisierung eines modernen Gesundheitszentrums“ vor. Dies sollte idealerweise aber nicht von der Stadt gemanagt werden, sondern privatwirtschaftlich organisiert sein.
„Vieles davon haben wir schon gewusst“, beurteilte die Vorsitzende der SPD-Gemeinderatsfraktion Karin Gallmann das Gutachten. Sie vermisste die Einschätzung der Bürger, denn aus eigener Erfahrung weiß sie: „Zwei Monate auf einen Hausarzttermin zu warten, ist untragbar.“ Christoph Schmidt (Freie Wähler) forderte nun zügig weitere Schritte, insbesondere den Start der Ärzte-Akquise. „Das Gutachten ist ein erster Aufschlag“, antwortete Bürgermeister Thater, „nun müssen wir weiterspielen.“
Entwicklung der vergangenen Jahre
Vor allem in der ersten Häfte dieses Jahrzehnts erlebte die Ärzteversorgung in Wehr schwere Einschnitte: Nach dem Brand in der Villa Rupp Ende 2011 gaben Frauenarzt Hanspeter Döbele und Allgemeinmedizinerin Hannelore Lay ihre Praxen im Jahr 2012 auf. Im selben Jahr ging in Öflingen Inge Krützfeld in den Ruhestand, ihren Praxissitz übernahm Isabel Boedecker, die allerdings die Praxis in die wiederaufgebaute Villa Rupp nach Wehr verlegte und seitdem dort gemeinsam mit ihrem Ehemann praktiziert. Die zweite Praxis in der Villa Rupp übernahm Hussam Abbasi. 2015 ging die Öflinger Hausärztin Irmgard Roßteuscher ohne Nachfolger in den Ruhestand. Einzige Öflinger Hausarztpraxis ist seitdem die Praxis von Armin Nageleisen. Hier ist nun mit Ronit Zangvil eine weitere Allgemeinmedizinerin angestellt. Fünf Ärzte praktizieren im Ärztehaus in der Bündtenfeldstraße: Neben den Allgemeinmedizinerinnen Barbara Eisenhauer und Judith Gladewitz, die Internisten Günter Straub und Gerhard Dieter sowie Lungenfacharzt Volker Seuthe. Als weiterer Facharzt praktiziert Kinderarzt Jochen Sperling.
Blick in die Zukunft
In der Befragung durch die IWG gaben vier Wehrer Ärzte an, innerhalb der nächsten fünf Jahre, in den Ruhestand gehen zu wollen. Vier weitere planen dies im Zeitraum zwischen sechs und zehn Jahren. Nur vier Ärzte gaben an "zehn Jahre oder länger" praktizieren zu wollen. Für das Beratungsunternehmen IWG bedeutet dies: "Wir müssen sofort beginnen, Nachfolger zu suchen, um die bestehenden Strukturen zu erhalten."
Die Untersuchung
Das Beratungsunternehmen IWG befragte neben den Medizinern auch andere am Gesundheitswesen Beteiligte, beispielsweise Physiotherapeuten oder Zahnärzte. Die Befragten konnten sich dabei vertraulich zur allgemeinen Situation, aber auch zu ihrer persönlichen Situation äußern. Um die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Ärzte zu wahren, bleiben große Teile des Gutachtens nichtöffentlich.