Herr Zimmermann, was müssen wir uns unter der "Lenkpause für Körper und Seele" vorstellen?
Die Lenkpause richtet sich an Fernfahrer, die oft unter äußerst prekären Verhältnissen als moderne Nomaden auf unseren Straßen unterwegs sind. Viele kommen aus dem Ausland, sehr viele wegen der billigen Löhne aus Osteuropa. Sie werden von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und erfahren nur sehr wenig Wertschätzung. Mit der Lenkpause wollen wir ihnen auf Augenhöhe begegnen, mit ihnen ins Gespräch kommen und auch die Öffentlichkeit auf ihre Situation aufmerksam machen.
Wie haben Sie das praktisch umgesetzt?
Bei der ersten Lenkpause im April 2018 haben wir ein Zelt bei der Autobahnkapelle aufgestellt und gedacht, dass die Fernfahrer uns dort bestürmen würden. Die Fahrer leben an den Wochenenden ja in ihren LKW. Wir hatten uns vorgestellt, dass sie hungrig auf Gesellschaft, Austausch und unsere Gastfreundschaft seien. Doch es war gar nicht so leicht, an die Fahrer ranzukommen.
Was war der Grund?
Da war zum einen Misstrauen. Einige hatten wohl schon früher Erfahrungen mit Sekten gemacht und waren deshalb vorsichtig. Zum andern dürfen die Fahrer ihre Lastwagen gar nicht so lange alleine lassen. Sie sind verantwortlich für die wertvolle Fracht und das Fahrzeug. Deshalb entfernen sie sich nur sehr ungern von ihren LKW.

Also war das Interesse zunächst nur mäßig. Hat Sie das nicht entmutigt? Was haben Sie dagegen unternommen?
Wir haben die Fahrer zwischen den LKW aufgesucht, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Dabei haben wir ihnen erklärt, dass es uns mit der Aktion nicht ums Missionieren, sondern um Gastfreundschaft und Menschenwürde geht. Bei der zweiten Lenkpause im Herbst 2018 war es dann viel einfacher, in Kontakt zu kommen.
Wie haben Sie sich verständigt? Die meisten Fahrer aus dem Osten sprechen doch kein Deutsch.
Mit manchen kann man sich in einfachem Englisch unterhalten. Wir haben aber auch Dolmetscher dabei. Wir haben einen ukrainischen Priester im Bistum. Sehr viele Fahrer kommen wegen der niedrigen Löhne von dort oder aus Rumänien.
Was erzählen Ihnen die Menschen?
Zwei Dinge haben wir erfahren: Viele der LKW-Fahrer lieben ihr Nomadendasein. Was sie aber nicht lieben, ist die oftmals lange Trennung von ihren Familien. Manche erzählen uns von persönlichen Schicksalsschlägen. Während der Gespräche hat sich plötzlich die Situation umgekehrt. Ein Fahrer erzählte, dass er als ausländischer Fahrer seit 20 Jahren auf deutschen Straßen unterwegs ist und jetzt erstmals als Mensch wahrgenommen wurde. Plötzlich kehrte sich die Gastfreundschaft um und wir wurden von den Fahrern eingeladen.
Wessen Idee war die Lenkpause? Haben Sie sie erfunden?
Ja, unsere Gruppe Kirche und Arbeitswelt hat die Lenkpause erfunden. Hinter den Lenkpausen steckt ein ganzer Helferkreis mit rund 50 Personen. Ganz maßgeblich beteiligt ist der Referent der katholischen Arbeitnehmerseelsorge, Gianfranco Rizzuti. Er hat mich und die andern begeistert. Seit über acht Jahren kümmert er sich um den Themenkomplex Kirche und Arbeitswelt. Er ist sensibilisiert für schwierige Arbeitsbedingungen. Doch der Impuls für die Lenkpause kam bei der Vesperkirche in der Singener Lutherkirche. Zusammen mit Pfarrerin Andrea Fink haben wir überlegt, wie die Fernfahrer in die Autobahnkapelle einladen können. Unser Ziel war von Anfang an auch, die Öffentlichkeit auf deren Situation aufmerksam zu machen. Offenbar haben wir damit einen Nerv getroffen, denn wir bekamen nicht nur viel Unterstützung, sondern auch sehr viele Lebensmittelspenden. So viel, dass wir den Fahrern sogar noch Kuchen und Gebäck mit auf die Reise geben konnten.
Wie geht es mit der Lenkpause weiter?
Die nächste Aktion wird am 20. und 21. Juli stattfinden. Wir wollen sie ein wenig umgestalten und ein Begegnungsfest bei den Lastwagen feiern. Und am 24. September erhalten wir den Innovatio-Sozialpreis.
10 000 Euro Preisgeld ist eine beachtliche Summe. Wer steckt eigentlich hinter dem Preis?
Die Bruderhilfe, der Caritas-Verband und die Diakonie. Er wird zum zehnten Mal verliehen und ist in ganz Deutschland ausgelobt.
Wissen Sie, warum Sie den ersten Jury-Preis für die Lenkpause bekommen?
Offensichtlich hat die Jury das niederschwellige Angebot überzeugt, das sich an Menschen mit einem geringen gesellschaftlichen Ansehen richtet. Vielleicht auch die starke Vernetzung der Kirchen, Gewerkschaften bis hin zur Polizei. Mehr werden wir wohl bei der Preisverleihung erfahren. Ich weiß nur, dass 20 Bewerbungen in der engeren Auswahl standen.
Wäre es nicht sinnvoller, mehr Güter von der Straße auf die Schiene zu verlagern? Dann wären auch weniger Fernfahrer unterwegs.
Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Aber wir können das Bewusstsein der Menschen für die schwierigen Arbeitsbedingungen der LKW-Fahrer schärfen. Viele Firmen unterhalten kaum noch Lager. Die Ware befindet sich in den Transportern unterwegs. Uns ist es wichtig, diesen Dienstleistern mit Respekt zu begegnen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen und für menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu sorgen. Wir alle bestellen immer mehr über das Internet. Solange Versand und Lieferung beim Online-Kauf kostenlos sind, scheint der Transport wertlos zu sein. Das muss sich im Sinne der dort Beschäftigten ändern.
Zur Person
Matthias Zimmermann (54) ist ein echter Hegauer. Er wurde – wie er betont – im ehemaligen Heinrich-Hospital in Arlen geboren. Nach der Mittleren Reife ließ er sich zum Werkstoffprüfer ausbilden und arbeitete in der Alusingen. Der Zivildienst und der Umgang mit Menschen im Singener Krankenhaus brachte ihn jedoch auf andere Gedanken. Um die Hochschulreife zu erlangen, besuchte er die Mettnau-Schule in Radolfzell. Anschließend studierte er Theologie und Religionspädagogik in Eichstätt und Rom. Seit 1996 ist er Priester in der Erzdiözese Freiburg und nach einer Zusatzausbildung in Psychologie und Pädagogik Supervisor und Organisationsberater. Matthias Zimmermann wohnt in Engen und leitet das Dekanat Hegau mit Dienstsitz in Singen. In seiner Freizeit reist er gerne in fremde Länder und beschäftigt sich mit anderen Kulturen und Religionen. Der Glaube spielte in seinem Leben immer eine Rolle. "Ich bin in einer katholischen Familie sozialisiert worden", sagt er.