Warum Geschichte viel mehr ist als Vergangenes und wie sie im Fall des RAF-Terrors bis heute wirkt, das durften die rund 60 Zuhörer aus dem aktuellen Stadtgespräch im historischen Kornhaus mitnehmen. Nachdem zuletzt die umstrittene ehemalige Russland-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz zu Gast war, lud Bürgermeister Frank Harsch nun den Sohn des durch die RAF entführten und ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer nach Engen. Im Gespräch mit Moderatorin Isabel Meier-Lang vermittelte Jörg Schleyer den Zuhörern, wie er diese Zeit erlebt hat und was ihn bis heute beschäftigt.
Jörg Schleyer möchte bewusst machen, was damals in den 1970er-Jahren, im sogenannten Deutschen Herbst, passiert ist. Und das ganz ohne jede Form der Verbitterung, die man ihm durchaus zugestehen würde. Er war gerade 23 Jahre alt, als sein Vater knapp sechs Wochen lang in der Gewalt der Terroristen war und schlussendlich ermordet wurde. Ein Ereignis, das den 71-Jährigen bis heute prägt.
Ganz nah dran an der Geschichte
„Er ist Zeitzeuge, Angehöriger und Sohn“, beschrieb Moderatorin Isabel Meier-Lang den Zugang Schleyers zur Geschichte der RAF, die so grausam wie spannend ist, dass sie in vielerlei Dokumentationen und nicht zuletzt in dem erfolgreichen Kino-Film „Der Baader Meinhof Komplex“ aufgearbeitet wurde.
Er habe die Zeit mit seinem Vater „nicht so intensiv erlebt“, schildert Schleyer im Gespräch. Denn als Arbeitgeberpräsident, Vorsitzender des Bundesverbandes der Industrie und Vorstandsmitglied beim Autobauer Daimler habe die Familie eigentlich nur im Sommer- und Winterurlaub wirklich Zeit mit dem Vater verbracht. „300 von 365 Tagen im Jahr war er eben gar nicht zuhause“, so Schleyer.
Im Gespräch, dass sich ein Stück weit an der Chronologie der RAF-Geschichte entlang bewegte, wurde Schleyer nicht müde zu erklären, dass es sich damals um eine ganz andere Zeit gehandelt habe. Sowohl was das Verständnis von Familie, die Aufarbeitung der Vergangenheit, aber eben auch die Ausrüstung und Vorgehensweise der Polizei angeht.
„Die Bedrohung war bewusst“, so Schleyer über eine mögliche Entführung seines Vaters. Der sei ja auch von der Polizei begleitet worden. Die Entführung sei aber dennoch geglückt. „Man darf den Standard von heute nicht auf die damalige Zeit projizieren. Die Polizei wusste es damals nicht besser“, so Schleyer fast entschuldigend.
Wolfgang Seliger hat den Terror selbst erlebt
Das bestätigte auch Wolfgang Seliger, der zum Stadtgespräch eingeladen wurde. Seliger wurde damals als junger Polizeibeamter in Singen von RAF-Terroristen im Einsatz schwer verletzt. „Das würde ich mir heute nicht mehr gefallen lassen“, so Seliger über die damalige Ausrüstung und Umgang bei der Polizei. Dennoch sei Polizeibeamter weiterhin sein Traumjob geblieben und ähnlich wie Schleyer erzählt er immer wieder als Zeitzeuge von seinen Erlebnissen. Das hat einen guten Grund, wie Schleyer sagte: „Es hilft enorm, sich mitteilen zu können.“

Im Kornhaus machte Schleyer deutlich, in welchem Dilemma sich die damalige Bundesregierung befand, als es um Lösegeld und die Befreiung inhaftierter RAF-Terroristen im Austausch gegen seinen Vater ging. Als Sohn habe er natürlich gehofft, die Regierung würde auf die Forderungen eingehen. Dass dies nicht passiert ist, dafür zeigt Schleyer heute aber auch Verständnis.
Gespräch mit Ex-Terroristin sollte Aufschluss geben
Für seine Aufarbeitung ist Jörg Schleyer sogar nach Mazedonien gereist, um mit Ex-Terroristin Silke Maier-Witt zu sprechen. Wie er im Gespräch verdeutlichte, war es ihm ein großes Anliegen zu erfahren, wie die letzten Minuten im Leben seines Vaters ausgesehen haben. „Wer letztlich geschossen hat, interessiert mich nicht“, so Schleyer. Immer noch aus Angst vor anderen Mitgliedern der RAF, so seine Interpretation, habe die reuige Maier-Witt aber nur wenig erzählt.

Neben den persönlichen Erlebnissen schilderte Schleyer immer wieder den direkten Bezug der historischen Ereignisse zur Gegenwart. Erst vergangenes Jahr ist mit Daniela Klette, die 30 Jahre lang untergetaucht war, ein RAF-Mitglied festgenommen worden. „Ich war erstaunt, dass man das als Bundesrepublik so hinbekommen kann“, lobte er die Aufarbeitung. Er machte aber auch deutlich, dass die RAF bis heute Anhänger in der Republik habe und radikale linke Strömungen wie im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg heute wieder erstarken würden.