Hermann Hesses Jugendliebe Julie Hellmann stand im Mittelpunkt der ersten Veranstaltung der diesjährigen Hesse-Tage im vollbesetzten Bürgerhaus Gaienhofen. Der faktenreiche Vortrag von Gunilla Eschenbach vom Deutschen Literaturarchiv Marbach wechselte mit Lesungen aus Briefen und literarischen Texten von Sprecher und Schauspieler Matthias Schuppli aus Basel. Fotografien und Originaltexte ergänzten den Abend.
Nachdem Hermann Hesse 1899 seine Lehrzeit in der Tübinger Buchhandlung beendet hatte und bevor er nach Basel umzog, traf er sich im August mit Studienfreunden des „petit cénacle“ in der Kleinstadt Kirchheim unter Teck. Sie logierten im Gasthof Krone, wo er sich heftig in die schöne Nichte des Wirts, Julie Hellmann, die als Aushilfskellnerin arbeitete, verliebte. Doch erst aus der Ferne warb er in Briefen um Julie, gestand seinem „Lulu Mädele“ seine Liebe. Sie antwortet knapp, sachlich und oft etwas spöttisch, beschwert sich über Briefporto, das sie nachzahlen musste. In „Lulu“ verarbeitete Hesse seine Erinnerung literarisch, die sein Verleger jedoch nicht drucken wollte und die zuerst in einer Schweizer Zeitschrift erschienen. Erst 1907 fand die Erzählung Eingang in „Hinterlassene Schriften und Gedichte von Hermann Lauscher. Herausgegeben von H. Hesse.“
Ein gewichtiger Dachbodenfund
Obwohl die Frühfassung dieses Textes von 1899 lange verschollen war, konnte das Literaturarchiv das Manuskript 2018 erwerben. Der Vortragende Matthias Schuppli hat hierzu ganz persönliche Erinnerungen: Als das Haus seiner Urgroßeltern in Riehen bei Basel verkauft werden sollte, fand die Familie in einer Kiste auf dem Dachboden einen Briefwechsel der Urgroßmutter mit Hermann Hesse. Hier befand sich auch das handschriftliche „Lulu“-Manuskript, das Hesse ihr als Dank für vergessene und nachgesandte Handschuhe schickte.
Mit markanter und modulationsreicher Stimme las Matthias Schuppli aus der „Lulu“-Erzählung, die Hesse E.T.A. Hoffmann widmete. Auch aus dem Briefwechsel Hesses mit Julie Hermann lasen die Vortragenden, ebenso aus Briefen von Studienfreund Otto Erich Faber, der ebenfalls von Julie Hellmann schwärmte. Diese ging im März 1900 als Kindermädchen nach Erlangen, arbeitete später als Hausdame und Sekretärin.
Ein freundschaftlicher Briefverkehr zwischen ihr und Hesse blieb bis ins hohe Alter bestehen, eine Liebesbeziehung ist nicht entstanden. Ob Hesses „Lulu“ ein romantischer und märchenhafter Gegenentwurf zu Frank Wedekinds gesellschaftskritischem Drama war? Matthias Schuppli hält das durchaus für möglich. In den 1950er Jahren schrieb auch Julie Hellmann, die 1972 starb, ihre Erinnerungen an die Kirchheimer Zeit auf und machte sich Hesses Geschichte zu eigen. 1959 wurden die Freundschaftsbriefe dem Literaturarchiv übergeben.