Das Hegau-Jugendwerk (HJW) in Gailingen ist ein neurologisches Krankenhaus und Rehabilitationszentrum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Eine Schreinerei oder eine Werkstatt für Elektrotechnik erwartet man da eher nicht. Und doch spielen gerade diese Werkstätten eine wichtige Rolle im gesamten Wiederherstellungsprozess der vom Schicksal gezeichneten jungen Menschen. Es sind Menschen, die zum Beispiel durch einen Gehirntumor, eine allergische Reaktion, einen schweren Verkehrsunfall oder einen Schlaganfall aus ihrem Alltag gerissen wurden. Sie müssen sich oft in langen Prozessen wieder ins Leben zurück kämpfen. So wie Frederike Voigt.

Handwerk als Therapie

Die 28-Jährige steht in der Holzwerkstatt im Hegau-Jugendwerk (HJW) an der Werkbank und schleift an einem quadratischen Holzstück die Kanten. Das Schleifpapier hat sie um einen kleinen Klotz gewickelt und führt es nun vorsichtig über die scharfe Schnittkante. Höchste Präzision ist hier gefragt. Alle vier Seiten sollen am Ende den gleichen Winkel haben, denn das kleine Brett soll später als Grundlage für das Spiel Solitär dienen. Werkstattleiter Lother Binder misst die Kanten nach. „Perfekt“, lautet sein Urteil.

Individuelle Förderung für den Wiedereinstieg

Seit knapp vier Wochen ist Frederike Voigt nun schon in Gailingen. Und sie hat von der Rentenkasse eine Therapie-Verlängerung bis in den April zugesagt bekommen. 2020 erkrankte die gelernte Augenoptikerin an einem Hirntumor. Nach fünf Jahren ist der Tumor zwar weg, aber diffuse Nervenschmerzen in den Händen, mangelnde Belastbarkeit und Probleme mit dem Gedächtnis sind geblieben.

Das könnte Sie auch interessieren

Alles Fähigkeiten, die die 28-Jährige in ihrem Beruf benötigt. Und das ist ihr größter Wunsch: in den Beruf zurückkehren zu können. Da sind Durchhaltevermögen im Kundengespräch, handwerkliches Geschick und Konzentration gefragt. In Gailingen besucht sie deshalb im Rahmen der Arbeitstherapie nicht nur die Schreinerei, sondern arbeitet für die Verbesserung der Feinmotorik auch in der Elektrotechnik. Außerdem besucht sie den Unterricht in den Fächern Wirtschaft und Verwaltung.

„Unser Ziel in der medizinisch-beruflichen Rehabilitation ist es, die Patienten soweit zu befähigen, dass sie in den ersten Arbeitsmarkt zurückkehren können“, erklärt der Leiter der Berufstherapie im HJW, Lothar Binder. „Wir loten aus, welche Fähigkeiten nach der neurologischen Erkrankung noch vorhanden sind und arbeiten an einer Steigerung der Belastbarkeit.“ Bei jüngeren Patienten, die vor der Berufswahl stehen, gehe es darum herauszufinden, welche Arbeit überhaupt zu ihnen passt.

Chancen durch die Reha

Frederike Voigt erzählt offen von ihren mentalen Rückschlägen, als sie zu Beginn der Reha keine Veränderung der Schmerzen in ihrem rechten Arm und bei der Belastbarkeit feststellte. In Gesprächen mit dem Psychologen im HJW habe sie aber gelernt, ihre Grenzen zu akzeptieren. „Ich war Leistungssportlerin und immer darauf getrimmt, das Maximale rauszuholen“, sagt Frederike Voigt. „Da ist es mir schwergefallen, ein angepasstes Pausenmanagement zu akzeptieren, mit dem ich mich vor der Überforderung schützen kann.“

Das könnte Sie auch interessieren

Der Psychologe habe ihr geraten, Gnade mit sich zu haben. Dadurch konnte sie ihren inneren Druck reduzieren. Sie sei ruhiger und ordentlicher bei der Arbeit geworden und habe weniger Schmerzen. „Ich bin glücklich, dass ich hier bin“, sagt sie. „Ich konnte mir vorher nicht vorstellen, dass ich mich mit meinen Grenzen anfreunden würde.“

Frederike Voigt ist überrascht und froh darüber, wie transparent in der Reha über Ziele gesprochen wird. Jetzt sei sie auch offen dafür, neue Perspektiven zu entwickeln und gegebenenfalls auch in ein anderes Fachgebiet zu wechseln. Im Moment trainiert die Rechtshänderin mit links zu schreiben. Für sie ist klar geworden, dass sie auf jeden Fall auch künftig einen handwerklichen Beruf ausüben möchte.

Teilhabe und Selbstständigkeit im HJW

Im HJW geht es darum, nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma und den neurologischen Folgen Möglichkeiten für die Zukunft der jungen Patienten auszuloten. Es geht um Teilhabe und Selbstständigkeit. „Hier ist der Raum dafür da“, erklärt Lothar Binder. Seit 34 Jahren begleitet er im HJW junge Menschen mit einem besonderen Handicap auf ihrem Weg in die Normalität. Wegen ihres breit gefächerten Angebots von der neurologischen Akut-Klinik bis zur arbeitsmedizinischen Wiedereingliederung ins Berufsleben kommen Patienten aus ganz Deutschland.

Es fällt auf, wie wohlwollend Lothar Binder über seine Klienten spricht. Und auch im direkten Umgang mit den Patienten spürt man eine hohe Wertschätzung und Menschlichkeit gegenüber den Rehabilitanden. Neben der fachlichen Kompetenz überzeugte das auch die Stuttgarter Auditorin Susanne Haiber im Rahmen der Rezertifizierung. Nach erfolgreicher zweitägiger Überprüfung ist die Einrichtung weiterhin als Bildungsträger nach dem Recht der Arbeitsförderung zugelassen. Kostenträger übernehmen rehaspezifische berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen mit dem Ziel der beruflichen Eingliederung von Menschen mit Behinderungen ins Arbeitsleben. Entscheidend für das gute Prüfungsergebnis sei auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Berufsbildungsbereich, Schule und Sozialdienst, erklärt die HJW-Sprecherin Andrea Jagode. Zur Berufsbildung gehören die Bereiche Wirtschaft und Verwaltung, Holztechnik, Metalltechnik Elektrotechnik, Technische Kommunikation und Hauswirtschaft.