Von einem Moment auf den anderen war das weitgehend selbstständige Leben für Franz Luxemburger aus Gottmadingen vorbei. Nach einem Schlaganfall im Januar 2021 war der 95-Jährige rechtsseitig gelähmt. „Als mein Vater aus dem Krankenhaus kam, war er ein Wrack. Wir waren von jetzt auf nachher in einer hochkomplexen Situation“, erinnert sich Roland Luxemburger. Denn plötzlich konnte sich die 87 Jahre alte Mutter nicht mehr alleine um den hochbetagten Vater kümmern und weitere Familienangehörige wurden zu Pflegern. Das sei anfangs wahnsinnig schwierig gewesen, berichtet Luxemburger.

Die Familie ist eine von vielen tausend. Denn laut dem Sozialverband VdK werden mehr als 80 Prozent der 4,1 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland zuhause versorgt. Der VdK ist mit Themen wie Rente, Gesundheit, Pflege, aber auch Teilhabe, der größte Sozialverband Deutschlands. Andere Quellen wie der Barmer-Pflegereport sprechen sogar von aktuell 4,5 Millionen Pflegebedürftigen – und rechnen damit, dass es in acht Jahren bereits sechs Millionen sein werden.

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Auf einmal stellen sich ganz neue Fragen

„Was Pflegende leisten, kann man erst beurteilen, wenn man es selbst an der Backe hat. Selbst die Vorstellung ist noch weit von dem entfernt, wie es tatsächlich ist“, sagt Roland Luxemburger. Er selbst habe bis vor einigen Monaten keine genaue Vorstellung gehabt. Schließlich waren die Eltern zwar schon alt, aber auch noch ziemlich fit und selbstständig. Dann brauchte der Vater auf einmal auch in intimen Momenten die Hilfe seiner Angehörigen. „Bodenständigkeit hilft“, sagt Luxemburger knapp, man dürfe keine Angst vor einer vollen Windel haben.

Anfangs habe man auch vieles organisieren müssen: Welche Pflegestufe hat der Angehörige, welche Leistungen erhält er und welche Hilfen gibt es für die pflegenden Angehörigen? „Da braucht man gute Nerven, denn das Prozedere ist sehr komplex“, sagt Luxemburger. Dennoch sei ein Heim keine Option gewesen: „Ein Heim käme für uns nicht in Frage, solange wir es leisten können“, erklärt der Rentner. Er sei in einer Großfamilie aufgewachsen mit gewissen Grundprinzipien. Eines davon: Man kümmert sich umeinander.

Alle packen mit an: „Ohne Familie geht es nicht“

So denkt offenbar auch ein Großteil der Deutschen, die ihre Angehörigen pflegen. Ein Großteil ist laut VdK selbst schon älter: Fast die Hälfte der 33.500 Befragten gab bei der Befragung zwischen März und Mai 2021 an, selbst bereits im Rentenalter zu sein. Das ist auch bei Roland Luxemburger so: Der 63-Jährige war bis Oktober berufstätig in Konstanz.

Heute gehen viele Handgriffe schon viel leichter von der Hand als zu Beginn der intensiven Pflege.
Heute gehen viele Handgriffe schon viel leichter von der Hand als zu Beginn der intensiven Pflege. | Bild: Tesche, Sabine

Als sein Vater pflegebedürftig wurde, habe er sich die Arbeitszeit glücklicherweise gut einteilen können. Aber: „Ohne die ganze Familie geht es nicht.“ Seine Tochter übernehme manches Organisatorische und sein Sohn sei teils extra von Berlin in den Hegau gereist, um zu helfen.

Helfende Hände entlasten im Alltag

Ganz alleine sind Luxemburgers nicht bei der Pflege: Morgens komme jemand vom Pflegedienst, um beim Start in den Tag zu helfen. Doch man merke, wie sehr der Pflegedienst unter Zeitdruck sei. An zwei Tagen pro Woche hilft außerdem die Tagespflege der Sozialstation Hegau-West den Angehörigen, Zeit für sich zu haben. Denn Pflege sei nur ein Teil der Herausforderung. „Man muss ja auch einkaufen, sich um Haus und Garten kümmern“, erklärt Luxemburger. Anfangs hätten sie beispielsweise das Haus einrichten müssen, damit es einigermaßen behindertengerecht wurde.

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Tagespflege hilft Betroffenem und seiner Familie

Die Tagespflege sei eine tolle Einrichtung, sagt Luxemburger: „Ich ziehe den Hut, mit welcher Empathie und Zugewandtheit die Leute das dort machen.“ Nach dem gemeinsamen Frühstück würden die Senioren dort Zeitung lesen, reden, Gymnastik machen, raus gehen und auch mal singen. „Er ist dann schon müde, wenn er heim kommt“, spricht der 63-Jährige über seinen Vater.

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Dass die Familie gemeinsam mit den weiteren helfenden Händen viel Zeit und Energie investiere, bringe ein erstaunliches Ergebnis: Der 95-Jährige sei viel fitter als direkt nach seinem Schlaganfall und hat häufig ein Lächeln auf den Lippen. Dabei helfe das Gemüt seines Vaters: „Man braucht auch den Betroffenen, der mitmacht.“

Franz Luxemburger (links) hat während des Fototermins immer ein Lächeln auf den Lippen.
Franz Luxemburger (links) hat während des Fototermins immer ein Lächeln auf den Lippen. | Bild: Tesche, Sabine

„Das könnte ein Heim nicht leisten“

Im gewohnten Umfeld und familiären Kontext könne ein Betroffener ein einigermaßen normales Leben führen. „Den Aufwand, den wir dafür betreiben, können sie im Heim gar nicht leisten“, sagt Luxemburger. Er lässt Schlagworte wie Pflegenotstand und Personalmangel fallen, auch Vereinsamung könne ein Thema sein. Dabei mache er den einzelnen Pflegern und Einrichtungen keinen Vorwurf, im Gegenteil: „In der Realität ist das, was die Pflegekräfte leisten, horrend unterbezahlt“, so Roland Luxemburger.

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Wenn es im Gesundheitswesen und der Pflege um Zahlen statt Menschen gehe, werde das den Betroffenen nicht gerecht: „Das ist die Generation, die nicht unwesentlich zu unserem heutigen Wohlstand beigetragen hat. Sie haben einen Anspruch darauf, ihre alten Tage in Würde zu verbringen“, betont der pflegende Angehörige. Für einen würdevollen Lebensabend seines Vaters packe er gerne mit an: „Es ist sehr anstrengend, aber machbar. Wir haben auch eine sehr wertvolle Zeit miteinander.“

„Diese größte Gruppe der Pflegenden braucht Hilfe“

Elisabeth Waibel leitet die Sozialstation und Tagespflege Hegau-West in Gottmadingen und hat täglich mit pflegenden Angehörigen zu tun. Rund ein Drittel der Befragten (34,5 Prozent) gab bei einer Befragung des Sozialverbands VdK im vergangenen Jahr an, dass die Pflege nur unter Schwierigkeiten oder eigentlich nicht mehr zu bewältigen sei.

1. Welche Rolle spielen pflegende Angehörige im Pflegesystem?

Deutschlands größter Pflegedienst sind pflegende Angehörige, wir sprechen da von vier bis fünf Millionen Menschen. Denn 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt. Die Pflege durch Angehörige muss daher als zentrale Stütze des deutschen Pflegesystems angesehen werden. Aber wenn die grundsätzlich hohe Pflegebereitschaft der Angehörigen erhalten bleiben soll, muss auch deren Lebensqualität und Zufriedenheit von Interesse sein.

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2. Was raten Sie Betroffenen: Was können sie selbst leisten und wo sind Grenzen?

Betroffene sollten die eigenen Grenzen anerkennen und Freiräume schaffen, um sich zu erholen und zu regenerieren. Das können auch teilstationäre Angebote sein oder niedrigschwellige Betreuungsangebote. Dafür können sie auch die Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch nehmen. Wichtig ist, sich rechtzeitig Hilfe zu holen und dabei den Pflegebedürftigen einzubinden. Der Pflegebedürftige muss verstehen und akzeptieren, wie wichtig es ist, die Pflegeperson zu entlasten, damit die eigene Pflege weiterhin sichergestellt ist.

3. Wo finden pflegende Angehörige (auch finanzielle) Unterstützung und Entlastung?

Sie können und sollten Leistungen der Pflegeversicherung beantragen. Dabei hilft eine Beratung bei den Pflegeberatern der Pflegekassen, beim Pflegestützpunkt Konstanz oder einem der ambulanten Pflegedienste. Pflegende Angehörige sollten keinesfalls alles alleine machen und rechtzeitig Hilfe annehmen. Es gibt Hilfs-, Entlastungs- und Pflegeangebote, die man annehmen kann. Und es gibt Selbsthilfegruppen, wo man sich mit anderen Betroffenen austauschen kann.

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