In einem Dorf ganz in der Nähe wird seit Kurzem ein Kasperletheater mit hohem Unterhaltungswert aufgeführt. Es findet hauptsächlich in den Sozialen Medien statt und richtet sich an ein erwachsenes Publikum im Wahlalter. Ich habe mal versucht, die Geschichte, die dort auf die Bühne gebracht wird, zu verstehen. Offensichtlich haben mehrere Autoren am Skript mitgeschrieben, so dass die Rollen nicht immer ganz klar sind – aber das macht ja gerade den Reiz der Aufführung aus: Alle werden eingeladen, mitzuhelfen bei der Lösung des Rätsels.
Soweit ich es verstanden habe, erzählen sie die Geschichte folgendermaßen: Ein König herrscht von alters her über die braven Bürger und Bürgerinnen des hübschen Dorfes. Da kommt der Kasper – wie weiland das unschuldige Kind in Andersens Märchen vom Kaiser und den neuen Kleidern – und ruft: „Der ist gar kein König, sondern ...“
Tja, ab hier wird‘s schwierig. Die einen sagen dies, die anderen das. Es entsteht ein groß‘ Geraune in den Gassen und auf dem virtuellen Marktplatz des Dorfes. Wie konnte der König nur übersehen, dass sein Volk laut um Hilfe ruft? All die Bürgerbegehren, Arbeitsgruppen und öffentlichen Sitzungen des Rates – nur raffiniertes Blendwerk? Und hat nicht gar ein böser Zauberer alle Brieftauben des Dorfes in einem magischen Schlaf versetzt, so dass die Briefwahlunterlagen erst am Sankt Nimmerleinstag zugestellt werden? Der Kasperl öffnet allen die Augen und das ganze Dorf applaudiert. Das ganze Dorf? Nein, ein paar Unverbesserliche sind anderer Meinung und ... „Kasper! Kasper!“, ruft das Publikum. „Pass auf!“ Hinter ihm reißt das Krokodil das Maul auf und ruft: „Meinungsfreiheit!“ Aber patsch hat ihm der Kasper eins mit der Pritsche übergezogen, dass es abtauchen muss. Auftritt Seppl, der dem Kasper klarmachen will, dass man nicht immer mit der Pritsche draufhauen muss, sondern auch mal reden kann. Aber der Kasper redet nicht mit Krokodilen. Und dass der Seppl lieb, aber ein bisschen einfältig ist, weiß sowieso jeder. Die gute Großmutter hat in ihrer Jugend auch mal für eine bessere Welt demonstriert, aber von diesem neumodischen Internetzeugs versteht sie nichts und hält sich lieber raus. Und als die Gretel was sagt, kommt sofort der Advokat angerannt und droht ihr mit einer Klage. Nun wird das Stück ein bisschen langweilig, weil der Kasper ganz allein auf der Bühne sitzt und gemeinsam mit seinen Fans Trarira singt. Komödie oder Drama? Die Beurteilung überlasse ich Ihnen. Am 11. Oktober fällt der Vorhang. Ob Applaus oder Buhrufe überwiegen werden, wage ich nicht zu beurteilen.

Ulrike Blatter ist Schriftstellerin. Für den SÜDKURIER nimmt sie sich in der Kolumne „Am Rande“ Themen vor, die das Bewusstsein für alltägliche Begebenheiten schärfen sollen. Wir nehmen dazu gerne Anregungen der Leser entgegen. SÜDKURIER Lokalredaktion, Erzbergerstraße 2 in Singen oder per E-Mail: http://singen.redaktion@suedkurier.de