Der 20. Mai 2018. Ein Sonntag wie gemalt zum Bergwandern; Mix aus Sonne und Wolken, Temperaturen um die 20 Grad. „Wir wollten wie so oft ins Appenzell„, erzählt Nikolai Zubar. Zusammen mit seiner Frau Tatjana verlässt er nach dem gemeinsamen Mittagessen die Wohnung in der Mainaustraße. Sie machen sich mit dem Auto auf den Weg gen Bergwelt, um einen unbeschwerten Tag in der Natur zu genießen.

Nichts sollte mehr so sein, wie es war

Doch dieses Mal kommen sie nicht weit. Keine zehn Kilometer. In Münsterlingen, kurz vor der Abzweigung Richtung St. Gallen, verändert sich das Leben des Konstanzer Ehepaars grundlegend. Nichts sollte fortan mehr so sein, wie es einmal war. Ein Auto schießt mit einer von Gutachtern im Nachhinein berechneten Geschwindigkeit von 110 Stundenkilometer frontal auf sie zu. „Ich weiß nicht mehr, was dann passiert ist“, sagt Tatjana Zubar. „Ich sah dieses Auto auf uns zufliegen und dann war ich weg.“

Die Polizei rekonstruierte später, dass der Unfallverursacher auf der Linksabbiegerspur während eines Überholvorgangs zu spät bemerkte, dass die Spur endete – das Auto wurde durch den Aufprall auf eine Laterne und auf einen Randstein in die Luft katapultiert, prallte so direkt auf das aus Konstanz kommende Fahrzeug. „Wir waren eingeklemmt, bekamen schnell keine Luft mehr, da Fenster und Türen verschlossen waren“, erinnert sich Nikolai Zubar. „Meine Frau war sofort bewusstlos, ich tastete meinen Körper ab und dachte zunächst, dass ich nichts Schlimmes hätte.“

„Mein Bein hing nur noch so da“

Schnell waren Ersthelfer am Ort, ebenfalls Polizei, Notarzt uns Rettungswagen. Mit Schneidemaschinen wurde der hintere Teil des Autos entfernt, um an die Opfer zu gelangen. „Ich wurde von hinten gezogen“, so Nicolai Zubar. „Da bemerkte ich erst, dass mein linkes Bein voller Blut war und es nur noch so da hing.“ Er wurde mit dem Hubschrauber ins Spital nach Ravensburg gebracht, seine Frau nach St. Gallen. Noch in der Nacht wurden beide operiert. Er zehn Stunden am Bein, sie mehrere Stunden an zahlreichen verletzten inneren Organen – der Anfang eines OP-Marathons. Nicolai Zubar kam bis heute 23 Mal unters Messer, Tatjana Zubar dreimal. Nicolai Zubars Bein wurde zunächst unterhalb des Knies amputiert. Aufgrund von Komplikationen dann aber in einer weiteren Operation oberhalb des Knies. Die Frau des Unfallverursachers verstarb noch am Unfallort.

Ich muss täglich viele Tabletten schlucken, habe schreckliche Phantomschmerzen wegen des amputierten Beines und die Prothese macht große ...
Ich muss täglich viele Tabletten schlucken, habe schreckliche Phantomschmerzen wegen des amputierten Beines und die Prothese macht große Probleme. Es ist schrecklich“, erzählt Nikolai Zubar. | Bild: Oliver Hanser

Der Fahrer sagt später, eine plötzlich auftretende Bewusstlosigkeit sei der Grund für den Unfall gewesen. Er könne sich nicht mehr an den Unfall, bei dem er selbst schwer verletzt wurde, erinnern. Alkohol wurde in seinem Blut nicht gefunden, er stand laut Polizeibericht jedoch unter dem Einfluss von Schmerzmitteln. Zeugen des Unfalls sagten gegenüber der Polizei aus, dass der Verursacher „sehr schnell und mit stark überhöhter Geschwindigkeit“ unterwegs gewesen sein soll.

Lange Liste an Vorwürfen

Der Unfallverursacher gab in der Vernehmung an, dass er sich an nichts erinnern könne. „Als ich noch bei Bewusstsein war, fuhren wir ganz gemütlich auf der Seestraße“, so seine Aussage. Auch er wurde schwer verletzt und mehrmals operiert. Die Liste an Vorwürfen, wegen derer gegen ihn ermittelt wird, ist lang: Fahrlässige Tötung, mehrfache fahrlässige Körperverletzung (schwere Schädigung), Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit dienen (fahrlässig), mehrfache grobe Verletzung der Verkehrsregeln, evtl. qualifiziert grobe Verletzung der Verkehrsregeln. Viele tausend Franken Anwaltskosten sind bereits aufgelaufen.

Die Akten des Horror-Unfalls. Wir haben die Titelblätter verdeckt, damit man die Namen des vermeintlichen Verursachers und seiner beim ...
Die Akten des Horror-Unfalls. Wir haben die Titelblätter verdeckt, damit man die Namen des vermeintlichen Verursachers und seiner beim Unfall verstorbenen Ehefrau nicht erkennt. | Bild: Schuler, Andreas

„Auch wir haben viel Geld für unseren Anwalte ausgegeben. Ungefähr 2500 Euro“, sagt Nikolai Zubar, der seit dem Unfall arbeitsunfähig ist. 78 Wochen erhält er von der Krankenkasse 67 Prozent des Nettogehalts, im November läuft diese Zeit ab. „Ich würde gerne wieder bei meinem alten Arbeitgeber anfangen“, sagt er. Noch steht das nicht fest, er ist aber guter Dinge, zumindest wieder Teilzeit arbeiten zu dürfen. Tatjana Zubar kann mittlerweile wieder 50 Prozent arbeiten – mehr geht nicht. Sie ist zu 50 Prozent behindert, er zu 70 Prozent. „Der Unfall hat uns ruiniert und jetzt stehen wir ohne Hilfe da“, sagen sie. „Wir haben 10 000 Franken und dann noch einmal 5000 Franken erhalten, doch das Geld war sofort weg für Anwalt, die Rettungsdienste und ein neues Auto.“

„Ich habe schreckliche Phantomschmerzen“

Die monatlichen Fixkosten liegen bei rund 1100 Euro. „Ich muss täglich viele Tabletten schlucken, habe schreckliche Phantomschmerzen wegen des amputierten Beines und die Prothese macht große Probleme, die Schmerzen sind unerträglich. Es ist schrecklich“, erzählt Nikolai Zubar. Das Auto des Verursachers wird derzeit bei einem München Automobilhersteller untersucht. „Unser Anwalt sagt, dass das drei Jahre dauern kann. Bevor diese Ergebnisse nicht da sind, können wir nichts unternehmen“, so Nikolai Zubar.

Noch gibt es keinen Termin für den Prozess

Die Akten mit Berichten, Zeugenaussagen, Anwaltsschreiben oder Gutachten stapeln sich, viele hundert Seiten beschreiben den Horrorunfall und die Folgen bis ins kleinste Detail. Ein Termin für den Prozess steht noch nicht fest. Das Warten zermürbt die Familie; die Ungewissheit, ob sie Schmerzensgeld erhalten und die immensen Kosten zurück erstattet bekommen, sorgt für schlaflose Nächte. Bis zum Prozess müssen die Zubars von der Hand in den Mund leben. Die zwei erwachsenen Töchter und ihre Familien helfen nach Kräften. Der Mut hat die Familie noch nicht verlassen, wohl aber der Glaube an Gerechtigkeit. „Wir konnten doch nichts dafür“, sagt Tatjana Zubar. „Und jetzt stehen wir so da. Unglaublich.“

Irgendwann, so sind sich die Zubars sicher, irgendwann wollen sie mal wieder nach Appenzell fahren, um einen unbeschwerten Tag in der Natur zu genießen.