Herr Wannenmacher, Konstanz sieht sich als Radstadt. Es gibt einen städtischen Fahrradbeauftragten, die Fahrradstraße wurde erweitert, der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehr liegt bei etwa 25 Prozent. Wofür wollen Sie denn noch demonstrieren?

Es wird schon vieles für die Fahrradfahrer in Konstanz getan, das stimmt und wird von uns sehr begrüßt als auch wertgeschätzt. Aber eine echte Fahrradstadt wie Münster, Amsterdam oder Kopenhagen, in denen der Fahrradanteil bei gut 40 bis 60 Prozent liegt, ist Konstanz noch nicht.

Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Es gibt hier beispielsweise noch kein engmaschiges, klares Radwegenetz. Viele Radwege enden einfach irgendwo oder sind nicht richtig ausgeschildert, es fehlen deutliche Signale am Boden, an denen man sich als Radfahrer orientieren kann – insbesondere auch für die Radtouristen irritierend.

Außerdem fehlen echte, multimodale Mobilitätspunkte wie beispielsweise in Freiburg: Dort gibt es am Bahnhof ein Fahrradparkhaus, Autostellplätze, eine Taxizentrale und den Fernbus-Bahnhof, eine Plattform für variantenreiche und bedürfnisorientierte Mobilität.

Norbert Wannenmacher hat noch ein Auto, will es aber abschaffen. Der Berufsschullehrer unterrichtet an der Wessenberg-Schule Konstanz ...
Norbert Wannenmacher hat noch ein Auto, will es aber abschaffen. Der Berufsschullehrer unterrichtet an der Wessenberg-Schule Konstanz unter anderem Betriebswirtschaft und Gemeinschaftskunde, ist Mitglied des Ende 2017 gegründeten Aktionsbündnisses Ciclo Konstanz. | Bild: Oliver Hanser

Was unserer Ansicht nach in der Konstanzer Politik in Bezug auf eine nachhaltige Verkehrspolitik fehlt, ist eine gewisse Rigorosität und Durchsetzugsfähigkeit gepaart mit visionärem Denken. Und darauf möchten wir aufmerksam machen. Auch deshalb, weil wir vorausschauen: Es kommen neue Baugebiete wie der Hafner hinzu, die Stadt wächst, wird extrem nachverdichtet – und mit ihr der Verkehr.

Auch die E-Mobilität wird keine Lösung sein. Ein Auto mehr ist ein Auto mehr – und ein Auto benötigt durchschnittlich den Platz von sieben Fahrrädern.

Haben Sie diese Rigorosität auch bei der „Fahrradstraße light“ in Petershausen vermisst?

Ja, unbedingt. Wenn Sie vorbildliche Radstädte wie Groningen oder Kopenhagen anschauen, ist es so, dass es eine klare Trennung auf den Straßen gibt zwischen Rad-, Auto- und Fußgängerverkehr. Im städtischen Radverkehr muss man Hauptachsen haben, auf denen schnelles Fahren möglich ist, idealerweise mit Überholspur für beide Seiten und an die Vororte angebunden – eine Art Fahrrad-Highway. Und es müssen Straßen sein, auf denen man sich sicher fühlt.

So kann sich das Radfahren für ein Gros der Bevölkerung als eine echte Alternative zum Autofahren erweisen. Beides ist in der Fahrradstraße Petershausen nicht der Fall, dort gibt es immer wieder gefährliche Situationen.

Das stimmt – andererseits gefährden sich manche Radfahrer durch ihre Fahrweise auch selbst. Müsste da nicht auch was getan werden?

Ich kann die Frage umdrehen: Wie viele Autofahrer beachten die Regeln gerade gegenüber dem schwächeren Verkehrsteilnehmer Radfahrer nicht? Immer wieder sehe ich, wie knapp Fahrradfahrer überholt werden, Fahrradwege zugeparkt sind. Oder im Winter wird der Schnee von der Straße auf die Rad- und Gehwege geschoben und man versucht, da irgendwie durchzukommen.

Aber da sind wir schon auf einer anderen, gesellschaftlichen Ebene: die der Wertevermittlung. Das fängt zu Hause in der Familie an und geht vor allen Dingen in Schulen und der gesamten Gesellschaft weiter. Sie werden es nicht glauben, aber viele Kinder kennen hauptsächlich nur noch die virtuellen Welten. Das Fahrradfahren im Konträr dazu bedeutet auch einen Berührungspunkt mit der Natur zu generieren, mit der Wahrnehmung der Umwelt, von Bäumen oder dem See, einer einzigartigen und erhaltenswerten Bodenseelandschaft. All das kann man im Auto als einer Art geschütztem, umweltfernem Raum nicht.

Sind Sie für eine autofreie Innenstadt?

Ja, wir tendieren in der Gruppe dazu, zumindest als eine Art Idealziel. Die Altstadt ist nicht groß, man kommt schnell von einem zum anderen Ende – und damit auch zum nächstgelegenen Parkplatz, selbstverständlich unter Berücksichtigung auch anderer Interessen wie die von Anwohnern, Gewerbetreibenden und Dienstleistern sowie alten oder Menschen mit Behinderung.

„Das mag sich radikal anhören, aber früher war die Markstätte auch noch voller Autos. Heute kann sich das keiner mehr vorstellen. Das ist das zentrale Thema: Was macht eine lebenswerte Stadt aus? Was sind die Bedürfnisse der Menschen?“
Norbert Wannenmacher

Vor 100 Jahren gab es noch so gut wie keine Autos und es war ganz normal, dass die Straße den Menschen gehörte. Da wurde gespielt, geplaudert, flaniert. Es lebte sich gesünder und entschleunigt. Man muss jetzt vielleicht nicht ganz so radikal denken, aber überlegen Sie sich mal, wie es wäre, wenn der Stephansplatz keine Betonwüste mehr wäre, sondern ein begrünter Platz, auf dem vielleicht ein Fahrradparkhaus steht und ein Brunnen, eine entspannte Ruhe herrscht? Das erhöht – nach Erfahrungen anderer Radstädte – die Verweildauer auf solch einem Platz, steigert folglich die Aufenthaltsqualität, von der letztlich auch der Einzelhandel und der Tourismus profitieren.

Die Händler gerade am Stephansplatz würden Ihnen wohl widersprechen.

Ja, ich weiß. Genauso ist es mit den Autofahrern. Gehen Sie mal in eine Spielstraße und sagen Sie den Autofahrern, sie möchten bitte in den legalisierten gekennzeichneten Park-Bereichen und nicht überall sonst auf vermeintlich freien Flächen parken, der Platz gehört auch rechtlich intendiert in erster Linie den spielenden Kindern, Fußgängern oder Radfahrern. Sie werden hauptsächlich nur Aggressionen ernten, ein ehrlicher und kontroverser Diskurs auf Augenhöhe ist hier nicht erwünscht.

Vor 100 Jahren, wie Sie vorhin sagten, musste man aber auch nicht so flexibel und mobil sein wie heute. Ich denke da an Mütter, die ihr Kind schnell in die Konstanzer Kita bringen müssen und dann weiter zur Arbeit nach Stockach fahren. Oder die Tatsache, dass ich mit dem Auto schneller in Stuttgart bin als mit dem Zug.

Ich habe selbst Familie, bin auch beratend tätig, fahre daher dienstlich viel mit dem Zug und kenne das. Ich nehme dann das Klapprad mit, um die Anschlussstrecken mit dem Fahrrad zu absolvieren. Ich glaube, das ist eine Mentalitätsfrage.

Es geht gar nicht um Polarisierung, sondern um einen viel globaleren Zusammenhang. Mittlerweile ist auch beim letzten Kritiker angekommen, dass es einen Klimawandel gibt. Und wir müssen versuchen, darauf zu reagieren, insbesondere auch deshalb, weil unsere Kinder, meine Schüler fragen: „Was können wir anders oder besser machen? Ist unsere Zukunft auch noch eine gute, eine lebenswerte?“.

Denn man kann auch im Kleinen, im Lokalen handeln. Das ist einer unserer Hauptansatzpunkte in der Ciclo-Gruppe.

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Sie sagen, es geht nicht um Polarisierung. Und sprechen gleichzeitig von einem egoistischen Verhalten von Autofahrern und Umweltschutzaspekten. Heißt im Subtext also doch, dass Radfahrer die besseren Menschen sind?

Genau das nicht! Es geht ja nicht darum, zu moralisieren oder Radfahrer als Gutmenschen zu definieren. Wir wollen einfach nur vor dem Hintergrund der Prinzipien der Subsidiarität und Suffizienz vormachen, dass es anders geht. Kinder und Jugendliche brauchen nach meiner elterlichen und beruflichen Erfahrung hier konkrete Vorbilder und realistische Lösungswege – sie formulieren das auch so.

Wir von Ciclo wollen zeigen, wie leicht es sein kann, die Dinge des täglichen Bedarfs beispielswiese mit dem Fahrrad zu organisieren. Ich habe konkret gesprochen immer zwei Satteltaschen und einen Fahrradkorb dabei – manchmal auch einen Fahrradanhänger, wenn ich von der Arbeit auf dem Weg nach Hause noch einkaufen will. Wer nicht so fit ist, kann auf ein E-Bike umsteigen – auf Raten oder im Leasingverfahren kann sich das inzwischen hoffentlich jeder leisten.

Circa 50 Prozent der innerstädtischen Autofahrten werden in Deutschland unter einer Distanz von fünf Kilometern zurückgelegt. Wenn ich aber überspitzt gesagt sehe, wie jemand mit dem SUV drei Kilometer zum Fitnessstudio fährt, um Sport zu machen, kann ich das rational nicht nachvollziehen.

Auf dem Logo der Gruppe steht: „Für eine lebenswertere Stadt“. Ist Konstanz nicht lebenswert?

Doch, ganz besonders sogar, und genau deswegen bedarf es aller Anstrengungen, diese Lebensqualität nicht durch unzureichende Städte- und Verkehrsplanung zu gefährden. Da ist noch Luft nach oben – eben ein längerfristiger Prozess. Genau das drückt der Begriff „lebenswertere“ aus.

„Was uns auch antreibt, ist die Eigenschaft dieser Stadt, sich aus unserer Sicht manchmal selbst im Wege zu stehen.“
Norbert Wannenmacher

Dass es oft nur halbherzige Lösungen gibt – wie etwa den Park and Ride- Platz am Bodenseeforum. Da würden wir uns wünschen, dass es besser und ganzheitlicher mit der Verkehrsplanung in Konstanz vorangeht. Nie losgelöst von zukunftsorientierter, nachhaltiger Stadtplanung und Landschaftsarchitektur.

Der Wiener Verkehrsplaner Herrmann Knoflacher fragte mal: Wem gehört denn die Stadt? Den Menschen oder den Autos?