9998, 9999, 10.000. Geschafft, mal wieder zeigt die digitale Anzeige an der Fahrradbrücke eine fünfstellige Ziffer. Der darunter abgebildete Pegel steigt und steigt, zweifellos werden die drei Millionen Fahrradfahrer wie angepeilt bis 2020 vorbeigefahren sein.

Die Zählstation ist ein Symbol, ein Werbetrick der Stadt, mehr nicht. Doch die gibt darüber hinaus auch einen Fahrradstadtplan aus, bietet über die Stadtwerke gleich zwei Radleihsysteme an und erteilt Radlern auf früheren Hauptverkehrsstraßen nach und nach die Vorfahrt.

Die Stadt ist auf dem Weg zur Verkehrswende. Aber die Bürger auch?

All das zeigt: Konstanz hat sich auf den Weg zur Verkehrswende gemacht. Und mit ihr die Bürger der Stadt, denen dieser Weg jedoch Wachstumsschmerzen bereitet.

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Noch fahren hier fast doppelt so viele Menschen mit dem Auto wie mit dem Fahrrad, schon in naher Zukunft sollen Radler allerdings in der Überzahl sein. So sieht es jedenfalls der städtische Masterplan zur Mobilität vor.

Nun gibt und gab es bereits Masterpläne zuhauf, in der Stadt, im Land, im Bund. Nicht alle sind erfolgreich, noch weniger sind von der Bevölkerung gewünscht.

Den Konstanzern schmeckt die Idee: freie Fahrt für freie Radfahrer

Jedenfalls laut diverser Umfragen. 2016 wünschten sich zwei Drittel der in der Bürgerbefragung angesprochenen Menschen einen weiteren Ausbau der Fahrradstraßen; über alle Altersschichten hinweg befürworteten die Befragten im Jahr darauf eine autofreie Innenstadt; eine der am meisten genannten Visionen, was Konstanz künftig sein sollte, lautete: eine fahrradfreundliche Stadt.

Doch es gibt noch eine andere Zahl, die von einer Telefonumfrage aus dem Jahr 2017 rührt. Drei von vier Konstanzern gaben damals an, Radfahrer seien aufgrund ihres Fahrverhaltens ein Unsicherheitsfaktor im Straßenverkehr.

Bild 1: Wir gegen die: Das ist die Kampfansage zwischen Rad- und Autofahrern in unserer Stadt. Aber dieser Kampf ist dumm – denn er kennt nur Verlierer
Bild: Stefan Roth

Die Aussage ließe sich auch umkehren. In der Stadt herrscht nahezu Vollbeschäftigung, die Lebensqualität ist enorm, die Verbrechenszahl vergleichsweise gering, die weltweiten Sorgen scheinen weit weg. In einer Stadt also, die vor Zufriedenheit zu platzen scheint, muss man sich Probleme schaffen. Wo lassen sich Anstand, Harmonie und ein sozial-verträgliches Miteinander besser vergessen als beim täglichen Clinch auf der Straße?

Wir gegen die, statt ihr und wir zusammen, so lautet auf der Straße die Kampfansage

Zugegeben, Kampf ist ein starkes Wort. Mitunter muten die Auseinandersetzungen auf den Straßen aber als solcher an: Familienväter mit Rad-Anhänger schnauben wütend über zugeparkte Radwege, Autofahrer schneiden im Wissen um den Schutz der Karosserie selbst radelnden Kindern den Weg ab. Auf der anderen Seite lehnen mitunter Fahrräder am Lack eines neuen Autos, bilden sich auf den Fahrradstraßen mehrere breite Kolonnen schlicht aus Trotz und Provokation.

Neu sind solche Szenen nicht, aber die Qualität ist eine andere geworden. Vor 20, 30 Jahren galten Autofahrer auch in der Uni-Stadt Konstanz als die natürlichen Herrscher der Straße. Kaiser und Könige fuhren Mercedes oder BMW, Fürsten einen Audi, der Pöbel ärgerte sich über Rost am Opel. Wer völlig unmotorisiert unterwegs war, galt allenfalls als Hofnarr.

Befuhren Radfahrer in den 80er- oder 90er-Jahren das Autofahrer-Hoheitsgebiet statt den Radweg in Richtung Hörnle, am Ende noch zu zweit nebeneinander, kurbelten selbst sanfteste Gemüter mit hochrotem Kopf das Fenster herunter.

Heute muss sich fast schon schämen, wer nicht auf zwei Rädern ohne Verbrennungsmotor unterwegs ist

Der Dieselskandal ist nur ein Symptom, sicher nicht die Ursache dafür. "Das Fahrrad ist das neue Auto" schrieb dieses Jahr der Berliner "Tagesspiegel"; die "Frankfurter Allgemeine" titelte im Sommer "Zukunft der Städte: Alle fahren Fahrrad". Die Lobpreisungen des Rads lassen sich beliebig verlängern. Mal sehen, ob es wirklich so kommen wird, angesichts übervoller Innenstädte scheint es zumindest denkbar.

Die Konstanzer Verkehrswende hat jedenfalls schon jetzt für ein gesteigertes Selbstbewusstsein bei Radlern gesorgt. Blaue Fahrbahnen hier, eine eigene Ampelschaltung dort – all das suggeriert ihnen: Ihr seid etwas Besonderes.

Die Bürger selbst sollten diesen Gedanken gar nicht erst aufkommen lassen oder ihn schnell wieder beiseite schieben. Ob mit dem Rad, mit dem Auto, mit dem Mofa, zu Fuß, im Bus oder im Seehas: Jeder einzelne ist nur ein kleiner Baustein des Gesamtkonstrukts Verkehr. Wann wenn nicht jetzt, da sich all diese Bausteine in ihrem Status annähern, können sie gemeinsam ein sicheres Gerüst um dieses Gesamtkonstrukt erschaffen.

Mit anderen Worten: Besonders ist keiner, besser schon gar nicht, ob mit oder ohne Pedale.