Den früheren Lehrer und Rektor Werner Schwarz lässt die Schule auch in der Pension nicht los: Zu Beginn seines Ruhestands leitete er fünf Jahre lang die Abendrealschule in Konstanz, zuletzt arbeitete der Pädagoge vier Jahre lang an seiner rund 300 Seiten starken Promotion, die er eben erfolgreich abgeschlossen hat. Der heute 73-Jährige widmete sich einem Thema, das er von der Wissenschaft völlig vernachlässigt sieht. Es hat die Motive und Entwicklungen von Menschen beschrieben, die die Abendrealschule besuchen. Schwarz ist es ein Anliegen den Fokus auf Menschen zu richten, die nach gängiger Einordnung zu den Bildungsverlierern zählen, aber versuchen, die Lage zu verbessern. Er geht davon aus, dass es sich um die erste umfangreichere wissenschaftlich Arbeit überhaupt zur Abendrealschule handelt.

Ein bisschen Genuss hat sich der frühere Lehrer und Leiter der Abteilung Realschule an der Geschwister-Scholl-Schule und spätere Rektor in Stockach in seinem Ruhestand auch gegönnt. Bevor er sich an seine Promotion setzte, sei er mit seiner Frau acht Monate lang auf Weltreise gewesen. Dann habe er sich entschlossen, seine pädagogische Biographie um den Doktor-Titel zu erweitern und mit der Abendrealschule ein Thema anzupacken, das die Wissenschaft bisher weitgehend aussparte. Auf die Idee sei er gekommen, weil er in den fünf Jahren, in denen er die Abendrealschule leitete, viel über die Lebensgeschichte und Lebenskrisen der jungen Menschen erfahren habe, die zur Weiterbildung an die Abendschule kamen, die der Volkshochschule angeschlossen ist. Er habe sich wissenschaftlich mit den Motiven für die Neuorientierung befassen wollen und sich deshalb einen Doktor-Vater an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten gesucht. Schwarz muss über den Begriff lachen. Vom Alter her hätte er der Vater des Wissenschaftlers sein können.

Für seine Arbeit führte er ausführliche Gespräche mit Schülern, die 2012 mit der Abendrealschule in Konstanz begonnen hatten. Wie üblich bei den Eingangsklassen, blieben von anfangs 20 nach wenigen Monaten gerade acht übrig. Die Unterrichtsstunden am Abend und die Belastungen des zusätzlichen Lernens überforderten viele. Neben einer vollen Berufstätigkeit sei dies oft gar nicht zu meistern. "Es ist normal, dass die Hälfte wieder aufhört." Diese Menschen allerdings seien dann aber für weitere Bildungsbemühungen ganz sicher verloren. Schwarz geht davon aus, dass es Möglichkeiten gäbe durch individuell zugeschnittene Lern- und Förderangeboten sowie Lernbegleitern die Abbruchquoten in den Abendschulen zu senken. Jedenfalls hätten die Schüler, die die Abendrealschule besuchen ganz vielfältige Hintergründe und er halte es für fragwürdig, die alle nach einem Schema zu unterrichten. Hierbei handle es sich aber um eine persönliche Einschätzung und nicht um den Gegenstand der Untersuchung in seiner Doktorarbeit, stellt Werner Schwarz klar. Ihm persönlich schwebe eine Art Gemeinschaftsschule in der Erwachsenenbildung vor und ein Deutschland, das deutlich mehr als fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgibt. Wenn man von Bildungsgerechtigkeit spreche, dann müsse man auch von Geld sprechen.

Schwarz hat anhand der langen Gespräche sieben Motive für die Weiterbildung an der Abendschule analysiert. Fast allen Schülern gemeinsam sei die Unzufriedenheit mit der beruflichen Situation gewesen, weil sie nur in Gelegenheitsjobs arbeiteten. Im Falle der konkret untersuchten Gruppe hatte nur ein einziger Schüler eine Berufsausbildung, mit der er aber reichlich unglücklich war. Auch andere Lebensverhältnisse spielten eine Rolle, etwa bei den jungen Menschen, die sich als Schulversager erlebt hatten, weil sie vom Gymnasium zur Hauptschule abgestiegen waren. Sie wollten beweisen, dass sie doch was können und sich mit dem weiterführenden Schulabschluss vor Familie und Freunden rehabilitieren. Manche Schüler stehen mit einem Fuß im Gefängnis und versuchten den Neustart durch den Schulbesuch. Andere wiederum, vor allem nach der Geburt eines Kindes, suchten nach einem krisensicheren Arbeitsplatz und nehmen deshalb die Weiterbildung auf sich. Es gebe auch die Schüler mit Migrationshintergrund, die die Schule besuchen, um sich wirklich heimisch fühlen zu können.

Drei Mal hat Schwarz ausführlich mit den Schülern gesprochen, zum Schulstart, nach dem ersten Zeugnis und nach dem Schulabschluss. Danach musste er die Interviews ins Schriftliche übertragen und analysieren. Schwarz erinnert sich, wie mühsam ihm das stundenlange Sitzen am Schreibtisch oft vorkam. "Das hat ganz schön geschlaucht." Andererseits hätten ihn die jungen Menschen und die Lebensläufe interessiert. Seine Arbeit zeige auch: Der neue Bildungsabschluss habe dem Leben der 20- bis 25-Jährigen oft eine ganz neue Wendung gegeben. Sie lernten sich selbst besser einzuschätzen, die Stellung in der Familie und im Freundeskreis habe sich verändert, sie hätten Anerkennung erfahren.

Die nötige Ruhe für das Nachdenken über seine Doktorarbeit hat Werner Schwarz in der Infrarot-Sauna seines Fitnessstudios gefunden. Jeden Morgen machte er zwischen sieben und neun Uhr Fitness-Übungen, danach gönnte er sich den Aufenthalt in der Wärmekabine. "Da sind mir die meisten Ideen gekommen." Danach habe er sich mit einem pensionierten Lehrerkollegen in einem Eiskaffee getroffen, und mit ihm über den Stand seiner Arbeit gesprochen. Auf diese Weise habe er ihn bei der Promotion unterstützt. Am liebsten wäre Werner Schwarz, wenn seine Arbeit andere Wissenschaftler anregen würde, sich näher mit den Abendschulen zu befassen.

Bildungshunger der Alten

Rund 35000 Menschen besuchten im Wintersemester 2015/16 als Gasthörer eine deutsche Universität. Mehr als die Hälfte war älter als 60 Jahre, das geht aus Zahlen des Statistischen Bundesamts hervor. Auch an der Universität Konstanz gibt es ein umfangreiches Angebot für Gasthörer jedes Alters. Die Gebühr beträgt 50 Euro pro Semester. Im Wintersemester 2014/15 waren in Deutschland vier Prozent der Promovierenden 45 Jahre und älter. Die Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf hatte sogar schon eine 102-Jährige, die dort ihre mündliche Promotionsprüfung nachholte. Der früheren Assistenzärztin am Israelitischen Krankenhaus in Hamburg war unter den Nationalsozialisten wegen ihrer jüdischen Abstammung die Zulassung verweigert worden. Im hohen Alter und mit fast 80 Jahren Verspätung durfte die Frau die Prüfung nachholen.