530 Gramm.

Das ist das Gewicht von Willi, geboren im Mai 2011, gestorben am selben Tag.

Caroline Wiesent, seine Mutter, ehrt sein Andenken bis heute, ein Bild von Willi hängt im Schlafzimmer. Willi durfte nicht leben. Ganz gehenlassen wollen seine Eltern, Caroline und Niclas Wiesent, ihn aber nicht. Er gehört mit zur Familie, ist immer ein bisschen dabei.

Teil 1: Von Tod und Abschied

Dabei ist er bei den darauffolgenden Geburten. Ebenso wie die Angst davor, es könnte wieder passieren. Felix und Leonie aber kommen 2012 und 2014 lebend zur Welt und wissen heute, dass sie einen großen Bruder hatten.

Wie es ist, ein Kind zu einem so frühen Zeitpunkt zu verlieren, kann auch Caroline Wiesent nur schwer beschreiben. „Die Welt ist auf eine gewisse Weise verrückt. Alles, was man sich vorher vorgestellt hat, muss man umplanen. Wenn Kinder so früh sterben, hat man gar nichts“, sagt die Dettingerin.

Das könnte Sie auch interessieren

Willi starb während der Geburt. Caroline Wiesent war in der 24. Schwangerschaftswoche mit leichten Wehen ins Krankenhaus gekommen, die sich vor Ort nicht beruhigten. Die Ursache für die Frühgeburt konnte nie abschließend geklärt werden. Die heute 39-Jährige spricht von Glück, dass sie und ihr Mann das Kind sehen konnten. „Ich habe ihn auch gehalten und in seinem Körbchen berührt“, sagt sie und glaubt, dass sie im Rückblick gerne noch mehr gewagt hätte.

Fachleute empfehlen, das totgeborene Kind zu waschen und zu betten. „Es sind so wenige Erinnerungen, die man mit diesem Kind hat und mitnimmt“, sagt die Mutter. Niclas Wiesent ist im Rückblick überrascht, wie stark er den Verlust empfunden habe und die Bindung zu einem Kind, das er gar nicht kennenlernen konnte. „Obwohl unser Sohn tot geboren wurde, war ich sehr stolz“, sagt er und weiß, dass dieser Moment auch das Erleben der weiteren Schwangerschaften prägte.

Vater sein ist ihm wichtig.

Teil 2: Von Tabu und Trauer

Die Folgezeit erlebt Caroline Wiesent als hart. Körperlich ist sie mit der Hormonumstellung beschäftigt, die Emotionen und die Trauer überwältigen sie. Immer wieder.

Schlimm sei die Angst gewesen, ob sie jemals lebende Kinder würde zur Welt bringen können.

Caroline und Niclas Wiesent sind die Initiatoren einer Selbsthilfegruppe. Der Austausch mit anderen betroffenen Eltern tut ihnen gut. ...
Caroline und Niclas Wiesent sind die Initiatoren einer Selbsthilfegruppe. Der Austausch mit anderen betroffenen Eltern tut ihnen gut. Das Foto wurde 2018 aufgenommen. | Bild: Wagner, Claudia

Da Willi mehr als 500 Gramm wog und sie bereits in der 24. Schwangerschaftswoche war, als er tot geboren wird, hat die Lehrerin Anrecht auf Mutterschutz. Bis zu den Sommerferien musste sie nicht arbeiten, das sei für sie gut gewesen. In der ersten Zeit gibt es viele Unterstützer, sie und ihr Mann suchen Hilfe bei Pro Familia und der Initiative Regenbogen. Dadurch erhalten sie Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe in Freiburg.

Nötig ist diese Unterstützung auch, weil Freunde und Familie in aller Regel Schwierigkeiten haben, mit dem Tod eines Frühgeborenen umzugehen.

Familie Wiesent entschied sich für einen offenen Umgang mit dem Thema. Auf eine E-Mail-Nachricht über den Tod ihres Sohnes antworten nicht alle Adressaten. Zur Beerdigung kommen die Großeltern, Geschwister des Ehepaars und enge Freunde. Auch unter ihnen herrscht Unsicherheit, über das Thema zu sprechen.

Wie wichtig es für die Eltern ist, einen Kontakt zu den totgeborenen Kindern herzustellen, sie zu berühren und zu beerdigen, bestätigt Carina Hahn, Hebamme und Trauerbegleiterin. Am Singener Klinikum leitet sie einen Gesprächskreis, der sich an Eltern frühverstorbener Kinder richtet.

Das könnte Sie auch interessieren

„Die Babys haben noch kein Leben gelebt“, sagt Carina Hahn. Entsprechend fehle den Eltern in ihrer Trauer ein Zusammenleben, auch ein Abschied. In der Singener Klinik versuche man daher, den Eltern alles mitzugeben, was sie an die Kinder erinnert: ein Armband, den Fußabdruck, die Kleidung.

„Wir machen immer Fotos, auch, wenn die Eltern sie in ihrer Traurigkeit nicht haben möchten.“ Viele Eltern nehmen die Fotos mit und können sie sehr viel später erst betrachten.

Der Gesprächskreis sei auch so wichtig, weil das gesellschaftliche Tabu, das Thema anzusprechen, viel zu groß ist. Nachbarn, Kollegen, kaum jemand frage je nach.

Nach was sollten sie sich erkundigen? Geteilte Erinnerungen an das Kind gibt es nicht.

Teil 3: Von Gefühlen und Fakten

Die Emotionen, mit denen verwaiste Eltern kämpfen, gehen tief. „Verwaiste Eltern sind hochexplosiv“, beschreibt Carina Hahn ihre Schützlinge im Gesprächskreis. „Sie sind wütend auf die Welt und haben ganz verschiedene Emotionen“.

Schnelles Trösten funktioniere nicht. Fast alle lehnten es zunächst ab, an weitere Kinder zu denken. „Aber alle überwinden das Gefühl“, sagt Carina Hahn und weist darauf hin, dass beinahe alle Teilnehmerinnen ihres Kreises später gesunde Kinder geboren haben.

Caroline Wiesent bestätigt diese Selbstzweifel, aber auch den Wunsch nach einem lebenden Kind. „Wir haben relativ schnell gemerkt: Wir lassen uns nicht kleinkriegen“, erzählt sie.

Frühgeborenengräber wie dieses am Konstanzer Friedhof werden liebevoll gepflegt.
Frühgeborenengräber wie dieses am Konstanzer Friedhof werden liebevoll gepflegt. | Bild: Wagner, Claudia

2012 wird Felix gesund geboren. Der Weg dahin war für Caroline Wisent hart: „Die Schwangerschaft war der Horror“. Die Angst, das Kind könne wieder zu früh und nicht lebensfähig zur Welt kommen, war ständiger Begleiter. Caroline Wiesent half in dieser Zeit ein Therapeut und sie wechselte ihre Frauenärztin.

Zu Frühgeburten oder Fehlgeburten gibt es kaum Daten. Eine neue weltweite Studie geht davon aus, dass jede zehnte Frau mindestens eine Fehlgeburt erlebt. Mit den psychischen Folgen sind die Eltern oft allein.

„Es ist sicher eines der schlimmsten Traumata, die man sich vorstellen kann. Das seelische Heilen braucht Jahre“, sagt Andreas Zorr, Chefarzt der Gynäkologie am Konstanzer Klinikum.

Teil 4: Von Traumata und Taten

Caroline und Niclas Wiesent haben dieses Trauma ein zweites Mal erlebt. Nachdem nach Felix auch ihre Tochter Leonie 2014 gesund zur Welt kam, wurde Caroline Wiesent erneut schwanger und erlitt 2017 eine Fehlgeburt.

Gefasst kann die 39-Jährige darüber sprechen, das Gefühl der Ungerechtigkeit sei aber immer präsent: „Warum eigentlich ich? Das habe ich mich oft gefragt“. Anna, so haben die Eltern das zweite Frühgeborene genannt, habe sie zu Hause zur Welt gebracht.

„Ich wusste, was auf mich zukommt“, sagt sie.

Seither bemühen sich Caroline Wiesent und ihr Mann um Eigeninitiative. Sie haben eine Selbsthilfegruppe in Konstanz gegründet, die Treffen für durch eine Frühgeburt verwaiste Eltern anbietet. Im Moment wird sie von sechs Personen besucht.

„Ich wollte Zeit für Willi und Anna haben“, erklärt Caroline Wiesent. Gleichzeitig aber sollen die lebenden Kinder ihr Recht im Alltag bekommen. Deshalb sei der lange Anfahrtsweg nach Freiburg nicht in Frage gekommen. Die Selbsthilfegruppe hilft ihr.

Selbsthilfegruppen sieht auch Petra Hinderer, Vorsitzende des Hospizvereins Konstanz, als entscheidenden Faktor im Trauerprozess. Die Teilnehmer träfen dort auf Expertenwissen, da alle ähnliche Erfahrungen gemacht hätten, schreibt sie. „Außerdem sind die Verluste unterschiedlich lang her und so sehen akut Betroffene bei den anderen, dass und wie das Leben weiter gehen kann.“

Oft gehe es um Schamgefühle oder die Angst vor einer neuen Schwangerschaft. Der professionellen Hilfe bedürfe es aber, wenn zum Verlust weiter Probleme hinzukämen: eine Trennung, Depression, Mehrfachverluste oder starke Schuldgefühle.

Was die Fachkräfte aus Klinikum und Hospizverein vereint, ist der Wunsch, dem Thema in der Öffentlichkeit einen höheren Stellenwert und mehr Offenheit zu verleihen. Anteilnahme tue jedem betroffenen Elternpaar sehr gut, sagt Hebamme Carina Hahn.

Den meisten helfe es schon, wenn Bekannte zum Thema nicht schwiegen, sondern sensibel nachfragten, ob sie etwas für die Trauernden tun könnten. Petra Hinderer ergänzt: Gesellschaftlich sei es wichtig, „das Thema aus der Schamecke zu holen“, über die Fakten aufzuklären und die Betroffenen nicht alleine zu lassen.

Teil 5: Vom Leben

Im Garten der Wiesents, der zu den Nachbarn hin offen ist, steht ein großer Plastikbagger. Eine Katze streicht den Hausherren um die Beine, ein Plastikeimer steht herum. Leonie ist sieben Jahre alt und gerade in die Schule gekommen, der große Bruder Felix ist neun. 2019 wurde Caroline Wiesent noch einmal schwanger. Und wieder die Angst.

Im Winter 2019 wurde David geboren. Lebend.

Zwei Eltern, drei Kinder, das ist nur die halbe Wahrheit: Im Schlafzimmer hängen die Bilder von Willi und Anna.

Wo Eltern Hilfe bekommen

Die rechtliche Unterscheidung zwischen Früh- und Spätabort, Fehl-, Früh- und Totgeburt ist komplex. Dass Eltern in allen Fällen Beistand brauchen, ist heute aber Konsens. Im Kreis Konstanz gibt es diverse Angebote.

  • Früh- und Totgeburten: Medizinisch korrekt spricht man von einer Frühgeburt, wenn das Kind nach der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kommt. Die Grenze der Lebensfähigkeit liege bei der 24. Schwangerschaftswoche, so Andreas Zorr, Chefarzt der Gynäkologie am Konstanzer Klinikum, allerdings habe es in Deutschland vereinzelt Kinder gegeben, die in der 22. Woche geboren wurden und überlebten. Laut Definition spricht man von Totgeburt, wenn nach der Geburt eines Kindes, das mindestens 500 Gramm schwer ist, kein Lebenszeichen erkennbar ist. In diesem Fall, wenn das Kind mehr als 500 Gramm wiegt, erhalten die Eltern eine Geburtsurkunde mit Sterbevermerk. Ab 500 Gramm besteht Bestattungspflicht, ist das Kind leichter, kann es, muss aber nicht bestattet werden. Die Wahrscheinlichkeit, einen nicht lebensfähigen Säugling zur Welt zu bringen, ist nicht allzu hoch. In den vergangenen Jahren seien nur zwei von 1600 Geburten im Kreis Konstanz Totgeburten gewesen, berichtet Zorr.
  • Zur Selbsthilfegruppe: Die Selbsthilfegruppe, die im Rahmen des Hospiz Konstanz angeboten wird und von Familie Wiesent initiiert wurde, findet jeweils am zweiten Montag jedes Monats statt. Die nächsten Termine sind Montag der 13. Dezember 2021 und der 10. Januar 2022. Die Gruppe trifft sich von 20 bis 22 Uhr in der Talgartenstraße 2. Teilnehmen kann jedes Paar oder Elternteil, das den Tod eines frühgeborenen Kindes erlebt hat und sich mit Betroffenen austauschen will. Kontakt zum Hospizverein: Telefon (07531) 691380.
  • Gottesdienste: Zwei Mal im Jahr finden Gedenkgottesdienste für die frühgeborenen und verstorbenen Kinder statt, in Singen und in Konstanz. Es gibt Sammelbestattungen der frühgeborenen Embryonen auf den jeweiligen Friedhöfen. Eltern können sich im Rahmen der Klinikseelsorge an den evangelischen Diakon Christoph Labuhn oder den katholischen Pfarrer Andreas Kluger wenden.
  • Weitere Angebote: Auch in Singen gibt es einen Gesprächskreis für betroffene Eltern. Der findet wegen der Pandemie nur unregelmäßig statt. Infos bei Carina Hahn per Email an verwaisteelternsingen@gmail.com