Dass die ersten drei Monate einer Schwangerschaft kritisch sind, hört man immer wieder. In diesen ersten Wochen endet knapp ein Drittel aller Schwangerschaften durch Fehlgeburten, wie Christian Albring als Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte sagt. Auch danach sterben einige Kinder noch vor ihrer Geburt – und hinterlassen verwaiste Eltern. „Wir haben uns nach den ersten drei Monaten gefreut und gedacht: Jetzt haben wir es geschafft“, sagt Sabine Beirer über ihre Schwangerschaft. Lange hatte es nicht geklappt, dann wuchs in ihrem Bauch ein Junge. Nils war ein absolutes Wunschkind. Doch dann bekam sie schon einen Monat vor dem Geburtstermin Wehen, ging ins Klinikum – und dort waren keine Herztöne mehr zu hören.
Nils war tot, noch bevor er leben sollte. Ein Schock für die Eltern. Und keine Seltenheit im Hegau-Bodensee-Klinikum (HBK) Singen: Pro Jahr sterben dort circa 160 Embryonen, Föten, ungeborene und neugeborene Babys.
Wer Sabine Beirer besucht, parkt sein Auto an einem Spielplatz. An diesem Tag steht eine schwangere Frau am Zaun und beobachtet spielende Kinder. Für Sabine Beirer war das lange ein schwerer Anblick: „Es hat einige Zeit gebraucht, bis ich wieder aus dem Fenster schauen konnte.“ Denn sie hat selbst ein Kind verloren, ist kinderlos geblieben. Die 38-Jährige hat ihre Trauer auch mit anderen Betroffenen beim Gesprächskreis des HBK mit Carina Hahn verarbeitet. Inzwischen leiten die beiden gemeinsam die Gruppe.
Dass eine Schwangerschaft auch nach dem dritten Monat unglücklich enden kann, war kein Thema
„Mir hat es geholfen, mit anderen Betroffenen zu sprechen. Man sieht, dass man mit seiner Trauer nicht alleine ist.“ Denn einige Menschen hätten sie nicht verstehen können – oder nicht gewusst, wie sie reagieren sollen. „Es war ein Tabu-Thema“, sagt Sabine Beirer heute, während sie am Esstisch in ihrer Radolfzeller Wohnung sitzt. Zum Zeitpunkt ihrer stillen Geburt habe niemand in ihrem Bekanntenkreis von einem ähnlichen Schicksal erzählt gehabt. Dass eine Schwangerschaft auch nach dem dritten Monat unglücklich enden könnte, sei für sie kein Thema gewesen.
Waltraud Reichle und Christof Labuhn haben regelmäßig mit Eltern zu tun, die das HBK ohne ihr Kind verlassen müssen. Die beiden arbeiten als Seelsorger im Klinikum, sie für die katholische und er für die evangelische Kirche. Dabei haben sie auch bemerkt, wie sich der Umgang mit Sternenkindern gewandelt hat. Vor 20 bis 25 Jahren sei das noch gar kein Thema gewesen. Dann hätten das Klinikum, Klinikseelsorge, die Stadt Singen und Eltern sich Gedanken gemacht, wie man Abschied nehmen könne, erzählt Reichle.
Ein kleines Grab für einen kleinen Sarg
Sie hat sich an einem kalten Frühlingstag aufgemacht, um ein Grab auf dem Singener Waldfriedhof zu segnen. Dort sollen 80 Föten beerdigt werden. So viele Kinder sind seit November im Klinikum gestorben, bevor sie geboren wurden. Vom Parkplatz aus durchquert Reichle schnellen Schrittes das Friedhofgelände, bevor sie nahe des Eingangs an der Schaffhauser Straße stehen bleibt. Friedhofsmitarbeiter Frank Göller hat hier bereits ein kleines Grab geschaufelt, davor steht ein heller Holzsarg. Waltraud Reichle hält eine kurze Andacht, Frank Göller lässt den kleinen Sarg in sein Grab hinunter. Wenige Tage später werden hier einige Eltern stehen und Abschied von ihrem Kind nehmen.

Eltern haben mit Sammelbestattung einen Ort, wo sie trauern können
„Eltern können hier her kommen mit ihrer Trauer“, sagt Reichle. Sobald ein Kind 500 Gramm wiegt oder gelebt hat, muss es bestattet werden. Wenn es weniger wiegt, gibt es ein Bestattungsrecht und Eltern können ihr Kind bestatten lassen. Das HBK bietet zweimal im Jahr kostenlos eine anonyme Sammelbestattung an: Eine im Frühling, eine im Herbst. Bei der Gedenkfeier können Betroffene auch sehen, dass sie nicht alleine sind. „Wir wollen eine Form von Trauer ermöglichen“, sagt Carina Hahn. Die Hebamme hat viele verwaiste Eltern begleitet. Wie wichtig dabei ein Grab sein kann, bestätigt Sabine Beirer: „Am Anfang war ich jeden Tag an seinem Grab.“ Nils wurde eingeäschert und an einem Baumgrab beerdigt.
Anfangs war kein Raum für die Trauer. Dann kam sie nach Hause, ins Kinderzimmer
Die Trauer begann für Sabine Beirer erst, als sie das Krankenhaus verließ. Davor war kein Raum dafür. Erst kam sie mit Wehen ins Klinikum, dann kam die Diagnose, dass das Herz ihres Kindes nicht mehr schlägt. Ein Schock: „Ich wollte im ersten Moment, dass man mir den Bauch abschneidet.“ Wegen einer Schwangerschaftsvergiftung konnte sie ihr Kind nicht selbst gebären, nach dem Not-Kaiserschnitt kämpfte sie eine Woche auf der Intensiv-Station um ihr Leben. Als sie ihr Kind in den Arm nehmen konnte, blieb es still. „Man will dann nur noch heim“, sagt die 38-Jährige. Zuhause wartete das Kinderzimmer. „Der Kinderwagen und alles waren ja da, wir hatten schon alles vorbereitet.“
Ostern, Weihnachten und Geburtstage ganz anders als geplant
Das erste Jahr sei der komplette Horror gewesen. Feiertage oder Geburtstage habe man sich schon mit Kind ausgemalt, feierte dann aber doch alleine. Außerdem habe sie bei ihrem Neffen sehen können, worauf sie sich selbst gefreut hatte. Als Mutter sieht sie sich dennoch: „Wir sind auch Eltern, denn wir haben ja schon Verantwortung für das Kind getragen und uns darauf gefreut.“ Sie tut sich schwer mit der Formulierung, dass ein Kind tot geboren wurde. Schöner sei der Begriff Sternenkind. Der steht dafür, dass ein Kind den Himmel erreicht hat, noch bevor es das Licht der Welt erblicken konnte.
Floskeln tun weh: „Bevor man so etwas sagt, sollte man lieber nichts sagen.“
Sechs Monate lang sei sie in Mutterschutz gewesen, danach war sie krank geschrieben. Ihr Umfeld habe ganz unterschiedlich auf den Schicksalsschlag reagiert. Einige Menschen hätten gesagt, sie könne ja froh sein, erstmal keine Windeln wechseln zu müssen. Andere hätten sie einfach nur in den Arm genommen. Womit sie sich bis heute schwer tut, sind Aussagen, dass sie ja noch jung sei und ja noch weitere Kinder bekommen könne. „Solche Floskeln tun weh. Bei uns hat das zum Beispiel nicht geklappt. Bevor man so etwas sagt, sollte man lieber nichts sagen. Oder nur sagen, dass es einem Leid tut.“
Als Sabine Beirer schließlich in ihren Beruf zurückkehrte, hätten sie anfangs die kleinsten Dinge belastet. Doch die Kollegen hätten sie toll unterstützt. Und dann sei irgendwann der Punkt gekommen, wo sie ihr Glück anderswo gesucht habe. Den Fokus neu einstellte. Wenn andere die Zeit mit ihren Kindern verbringen, ist die 38-Jährige mit ihrem Mann auf dem Wasser zu finden. Und das klappt? „Ja, jetzt schon“, sagt Sabine Beirer entschlossen.
Sie fühlen sich als Eltern und denken noch oft an Nils
Auch bald acht Jahre nach Nils Tod ist er ein wichtiger Teil im Leben seiner Eltern. Ein Bild von ihm steht im Wohnzimmer, eines im Schlafzimmer. „Andere Eltern teilen ja auch Bilder ihrer Kinder, oder?“, erklärt die 38-Jährige. „Es ist so wichtig, dass man Bilder hat, weil es die einzige Erinnerung ist.“ Eine Erinnerung an all das, was da noch hätte kommen können. Manchmal mache sie sich noch Gedanken darum, wie es sein wird, wenn ihr Mann und sie älter werden: „Sind wir dann alleine?“ Sie habe auch lange gebraucht, die Frage nach dem Warum loszulassen, sagt die verwaiste Mutter. Warum sie ein Sternenkind hat, statt mit Nils auf dem Spielplatz zu sein.
Umso wichtiger findet Sabine Beirer es, über Fehl- und Todgeburten zu sprechen – denn die gebe es so oft. „Die Betroffenen vergessen es nicht. Es begleitet einen, mal mehr und mal weniger, ein Leben lang.“
Wie Betroffene und ihr Umfeld reagieren können: Rund um Fehl- und Todgeburten
- Früher: „Viele Frauen schildern, wie schrecklich der Umgang früher war“, sagt Hebamme Carina Hahn. Vor einigen Jahren sei man noch viel unachtsamer mit dem Tod im Mutterleib umgegangen, habe das Kind häufig mit einer Operation geholt und dann versorgt. Die Mütter hätten oft nicht gewusst, wie ihr Kind aussah und was mit ihm geschah. „Das war traumatisierend und belastet die Frauen ein Leben lang“, erklärt Carina Hahn.
- Heute setzen sich unter anderem die Klinikseelsorger am Hegau-Bodensee-Klinikum und Hebamme Carina Hahn dafür ein, dass es einen bewussteren Umgang mit dem Thema gibt. Das HBK hat einen Raum nur für betroffene Eltern. „In normale Zimmer stürzt immer irgendjemand rein, ins Schmetterlingszimmer geht man vorsichtiger.“ Schließlich könnte es sein, dass Eltern dort gerade ihr totes Kind in den Armen halten. Carina Hahn empfiehlt Betroffenen, ihr Kind nach der stillen Geburt nochmal anzusehen. „Das ist fürs Abschied nehmen ganz wichtig.“ Es gehe auch darum, den tragischen Verlust begreifen zu können, sagt Klinikseelsorgerin Waltraud Reichle.
- Tipps für Betroffene: „Trauer ist ein tiefer emotionaler Prozess“, sagt der evangelische Klinikseelsorger Christof Labuhn. Je nach persönlicher Lebenssituation der Betroffenen könne dieser Prozess sehr unterschiedlich aussehen. Was Trauer häufig braucht, ist Zeit. Die meisten Frauen, die Carina Hahn im Gesprächskreis erlebt, würden nach etwa einem halben Jahr wieder arbeiten. „Männer trauern anders“ und würden eher die Ablenkung suchen, sagt Hahn. Die Väter würden daher meist schon nach vier Wochen wieder zur Arbeit zurückkehren. Wichtig sei, die Trauer zuzulassen, ergänzt Waltraud Reichle: „Trauern ist etwas Heilsames, das sollte man nicht tabuisieren. Und man sollte die Kinder auch nicht tabuisieren, denn sie sind Teil der Familien, haben für einige Monate das Leben geprägt.“ Bilder können helfen, die Erinnerung an das Kind zu bewahren. „Manche Eltern wollen das gar nicht, dann legen wir die Bilder in die Akte für später. Andere legen viel Wert darauf“, sagt Carina Hahn.
- Tipps für das Umfeld: „Viele Eltern sagen, dass sie sich in ihrer Trauer nicht wahrgenommen fühlen“, sagt Carina Hahn. Manche Menschen würden den verwaisten Eltern empfehlen, einfach ein neues Kind zu machen, oder ihnen erklären, dass der Embryo ja noch gar nicht lebensfähig gewesen sei. Andere würden den Kontakt abbrechen, weil sie nicht wissen, was sie sagen sollen. Die Hebamme rät dem Umfeld von Betroffenen, den verwaisten Eltern verständnisvoll zuzuhören. Es sei auch normal, dass Eltern noch lange nach dem Verlust an ihr verstorbenes Kind denken. Floskeln, wie sie auch Sternenkind-Mutter Sabine Beirer gehört hat, seien oft schmerzhaft. „Man sollte es nicht dramatisieren, aber auch nicht bagatellisieren“, rät Waltraud Reichle. Sie empfiehlt einen empathischen, einfühlsamen Umgang.
- Gemeinsam trauern: Momentan pausiert der Gesprächskreis betroffener Eltern wegen der Corona-Pandemie, doch normalerweise findet jeden ersten Donnerstag im Monat um 19.30 Uhr ein Treffen statt. Informationen bei Carina Hahn per Mail an verwaisteelternsingen@gmail.com