Harte Tage liegen hinter ihm. Sichtlich geschafft kommt Rolf Mützenich auf die Bühne des St. Johann in der Niederburg, den Blouson hat er wegen seiner Erkältung anbehalten. Eben erst ist er für diesen Termin in Konstanz angekommen und bittet gleich um Verständnis, dass er anschließend nicht mehr mit den fast 150 Mitgliedern und Freunden der örtlichen SPD zusammenstehen kann. Nach dem Auftritt geht es gleich weiter nach Zürich, am Morgen danach nach Berlin, später weiter nach Köln. Es sind harte Zeiten für Wahlkämpfer.

Für die Tour an den Bodensee hat sich der Vorsitzende der SPD-Fraktion trotzdem Zeit genommen, denn er will seine Kollegin Lina Seitzl in Konstanz unterstützen. Und schnell wird klar, dass er hohe Stücke auf die Konstanzer Abgeordnete hält. „Unaufgeregt, bescheiden und mit höchster Fachkompetenz“, so erlebe er sie, lobt er beim Neujahrsempfang des SPD-Kreisverbands. „Seien Sie stolz auf Lina!“

Doch das ist nur eine der Botschaften, die Mützenich wichtig sind an diesem Abend in der ehemaligen Kirche, die inzwischen zu einem Co-Working-Space umgebaut ist, wo man sich einen Arbeitsplatz mieten und mit anderen zusammenarbeiten kann. Die Plätze sind gut gefüllt, hinten und auf der umlaufenden Empore stehen Gäste. Diesen Politiker, der im Bundestag mit seiner Rede in Sachen CDU und AfD so viel Furore gemacht hat, wollen sich viele nicht entgehen lassen, obwohl in Singen gleichzeitig Friedrich Merz spricht, der Spitzenkandidat der Union.

Die SPD-Größen in der Region mit ihrem prominenten Gast: (von links): Landtagsabgeordneter Hans-Peter Storz, Ortsvorsitzender Frank ...
Die SPD-Größen in der Region mit ihrem prominenten Gast: (von links): Landtagsabgeordneter Hans-Peter Storz, Ortsvorsitzender Frank Ortolf, Bundestagsabgeordnete Lina Seitzl, Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich. Co-Kreisvorsitzender Uwe Herwig und der Fraktionsvorsitzende im Konstanzer Gemeinderat, Jürgen Ruff. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Nach dem, was geschah, redet er weiter vom „Tor zur Hölle“

Auf seine Rede kommt Mützenich dann auch schnell zu sprechen. Ob er es mit dem „Tor zur Hölle“, das die Union aufgestoßen habe, nicht übertrieben habe – das sei er oft gefragt worden. Und auch eine knappe Woche danach ist sich Mützenich sicher, dass es angemessene Worte waren angesichts der „tektonischen Verschiebung“, durch die die von der Union beschworene Brandmauer zur AfD ins Wanken kam.

„Alle Empörung ist angemessen“, redet sich der sonst so sachlich wirkende Mützenich in Fahrt. Es ist zu spüren, wie viel für ihn kaputtgegangen ist in kurzer Zeit; zum Fraktionschef-Kollegen Friedrich Merz wurde ihm lange Zeit eine gute Arbeitsbeziehung nachgesagt. Davon scheint nicht mehr viel übrig, seit die Union eine Initiative eingebracht hat, die am Ende nur durch die Stimmen der AfD eine Mehrheit fand.

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Durch die Einigkeit mit der Partei von Björn Höcke, der unter anderem eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Frage stelle, habe sich für diese tatsächlich eine Hölle aufgetan. „Und es wird dabei nicht bleiben“, warnt Mützenich vor der Ausgrenzung weiterer Gruppen wie Migranten und Senioren. Er erinnert an den SPD-Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby, der einst aus dem Senegal nach Deutschland kam und in Sachsen-Anhalt so schweren Anfeindungen ausgesetzt sei, dass er nicht erneut bei der Wahl antrete. Auch für ihn „waren die letzten Jahre die Hölle“, sagt Mützenich.

Das Publikum erlebt, wie der routinierte Politiker Fahrt aufnimmt. Schon zu Beginn hatte er die FDP scharf kritisiert für deren kriegslüsterne Wortwahl im Zusammenhang mit dem lang geschmiedeten Plan, die Ampel („Wir hatten sogar noch was vor“) ins Scheitern zu führen. Kein Wort über Kanzler Olaf Scholz, der dem nicht rechtzeitig Einhalt gebieten konnte, dafür Worte der tiefen Enttäuschung: „Das ist etwas, das ich der FDP nicht vergessen werde“. Schwer vorstellbar, wie da in wenigen Wochen noch Verhandlungen über eine mögliche schwarz-rot-gelbe Koalition möglich sein sollen.

Volles Haus im St. Johann. Den Auftritt eines der einflussreichsten Bundestagsabgeordneten wollen sich viele Mitglieder und Freunde der ...
Volles Haus im St. Johann. Den Auftritt eines der einflussreichsten Bundestagsabgeordneten wollen sich viele Mitglieder und Freunde der FDP nicht entgehen lassen. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Friedrich Merz? Da ist das Tischtuch wohl zerschnitten

Auch zu Merz persönlich hat Mützenich noch etwas zu sagen. „Ich hoffe, dass er begriffen hat, was er dort auslöst“, sagt er über die beiden Bundestagsdebatten, über die seither halb Deutschland redet. Auch hier zeigt sich, dass Politik eben auch etwas ist, das von und zwischen Menschen gemacht wird.

Denn das Wort zwischen dem Chef der Kanzlerfraktion und dem Regierungschef müsse doch einen Wert haben, und Merz – so Mützenichs Lesart – habe es gebrochen. Als er es sagt, ganz ruhig, den Blick in die Ferne gerichtet, glaubt man auch so etwas wie Trauer in seiner Stimme zu hören.

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SPD macht sich Mut: „Wir haben noch ein paar Tage“

Und doch schaltet er kurz darauf wieder in den Hoffnungsmodus um. „Wir haben noch ein paar Tage“, ruft er zum engagierten Wahlkampf auf und dankt den vielen im Saal, die seit Wochen Plakate kleben, an zugigen Infoständen auf den Marktplätzen stehen und für ihre Partei eintreten. Im langen Applaus für den Rheinländer scheinen sie sich auch selbst Mut zuzuklatschen für dieses Jahr 2025, das dieser Termin ja auch einläuten soll.

Ortsvorsitzender Frank Ortolf hatte schon bei der Begrüßung deutlich gemacht, dass von Resignation keine Rede sein könne – es gelte, die (sozial-)demokratischen Werte zu verteidigen und für ein solidarisches Land einzutreten. Bei Kandidatin Lina Seitzl wird das dann konkret: Für bezahlbaren Wohnraum und faire Löhne wolle sie eintreten. Sie „würde sich freuen, diesen Wahlkreis nochmals repräsentieren zu dürfen“, sagt sie so unaufgeregt und bescheiden, wie sie zuvor von ihrem Fraktionschef beschrieben worden war.

Der Gedanke, dass sie erneut in den Bundestag einzieht, bringt Fraktionschef Mützenich zum Lächeln: Lina Seitzl wirbt um Unterstützung.
Der Gedanke, dass sie erneut in den Bundestag einzieht, bringt Fraktionschef Mützenich zum Lächeln: Lina Seitzl wirbt um Unterstützung. | Bild: Rau, Jörg-Peter

Doch ein Moment zeigt dann auch in Seitzls kurzer Rede, wie sich die Dinge in diesem Wahlkampf verändert haben. Da wird sie ganz privat und ungewohnt emotional. Beim Festakt zu 75 Jahren Grundgesetz im Mai habe sie sich gedacht, wie schön es wäre, wenn ihre ungeborene Tochter „das auch noch erleben darf“, wenn dereinst 100, 125 oder vielleicht sogar 150 Jahre Grundgesetz gefeiert würden. Und so schließt sich der Kreis. Während Mützenich müde in den Saal blickt, sagt Lina Seitzl: „Es ist eine schwierige und herausfordernde Zeit.“