Um 19.30 Uhr betritt er die Bühne: groß, schlank, blauer Anzug, hellblaue Krawatte. Friedrich Merz wird von seinen Begleitschützern vom BKA in den Saal der Singener Stadthalle begleitet. Mit ihm auf dem Podium stehen die Bundestagsabgeordneten aus der Region, Maria-Lena Weiss, Volker Mayer-Lay, Felix Schreiner und Andreas Jung, sowie Manuel Hagel, Fraktionschef der CDU im Landtag, der im nächsten Jahr gerne zum Ministerpräsidenten gewählt werden will. Auf den Ehrenplätzen im Saal unter anderem die CDU-Granden aus Südbaden: Hans-Peter Repnik und Volker Kauder.
Plätze waren schnell vergeben
Sie sind gekommen, um Merz zu sehen. Die 1500 Plätze in der Stadthalle waren schnell vergeben, nachdem die CDU bekannt gegeben hatte, dass der Kanzlerkandidat der Union im Rahmen seiner „Wieder-nach-vorne“-Tour auch in Singen Station machen würde – eine von dreien (neben Künzelsau und Mannheim) in Baden-Württemberg. Die Leute wollen hören, was der Mann zu sagen hat, der den derzeitigen Umfragen nach der nächste Bundeskanzler werden dürfte.
„Kanzler!“ So lautet denn auch die knappe Antwort von Florian Guckert aus Radolfzell auf die Frage, was er zu Merz sagt. Der junge Mann trägt ein schwarzes Sweatshirt mit der Aufschrift „Team Merz 2025“ wie so einige im Saal. „Den Merz-Pulli hab‘ ich im Internet gekauft, den trag‘ ich sehr stolz“, bekennt er. Dem CDU-Vorsitzenden traut er zu, die Probleme des Landes zu lösen, diese sind aus seiner Sicht Wirtschaft, Migration und Steuern.
Eine Woche nach der historischen Abstimmung
Draußen vor der Stadthalle haben sich ein paar Hundert Gegendemonstranten versammelt. Angemeldet wurden diese noch bevor der CDU-Chef mit der AfD stimmte. Die erste Abstimmung über einen Entschließungsantrag der Union zum Thema Migration ist genau eine Woche her. Die CDU hat bei der jüngsten Forsa-Umfrage zwei Prozentpunkte eingebüßt. Merz sieht sich dem Vorwurf der mangelnden Glaubwürdigkeit ausgesetzt, weil er zuvor angekündigt hatte, mit der AfD gar nichts gemeinsam zu machen. Sogar Altkanzlerin Angela Merkel hat sich deshalb zu Wort gemeldet und Merz gescholten.

Auch Christian Brendel aus Rielasingen ist vor allem deswegen auf den Platz vor der Stadthalle in Singen gekommen, um seine Besorgnis auszudrücken: „Wir haben mit der CDU letztes Jahr hier gegen Rechtsextremismus und für Demokratie gemeinsam demonstriert. Die rote Linie zur AfD wurde aber nicht eingehalten“, erzählt er. „Ich wünsche mir, dass die CDU sich daran wieder hält.“
Erinnerung an das Stockacher Narrengericht
Merz wird das versprechen. Zuvor aber zieht er die großen Linien der Weltpolitik und macht eingangs einen kleinen Schlenker in die Region. Dorthin, genauer nach Stockach, hatte ihn der ehemalige Konstanzer CDU-Abgeordnete und frühere Staatssekretär Repnik gelotst – zum Narrengericht nämlich. Da sei er 2004 zu zwei Eimern Wein verurteilt worden – das „krasseste Fehlurteil“ seit dessen Bestehen. Aber, erinnert sich der Sauerländer: „Es hat trotzdem Spaß gemacht.“
Dann wird es ernst. Was wir zur Zeit erleben, ist laut Merz „eine geradezu tektonische Verschiebung politischer und ökonomischer Machtzentren der Welt“. Der Krieg in der Ukraine, der die gesamte politische Ordnung nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in Frage stellt, ein aggressives China, die Gefahren, die von Nordkorea oder dem Iran ausgehen, die Wahl von Donald Trump, dessen erste Entscheidungen den CDU-Chef „hoch besorgt“ zurücklassen.
Die Annahme, dass mit dem Ende des Eisernen Vorhangs alle Konflikte gelöst seien, habe sich als falsch entpuppt: „Heute wissen wir: Das war eine kurze Zwischenphase, wir leben in einer neuen Wirklichkeit.“

Um in diesen unsicheren Zeiten zu bestehen, setzt Merz auf Europa. Er sei „zutiefst überzeugt, dass Europa immer noch die richtige Antwort ist“. Das gehört zur DNA der CDU, auch wenn Merz mit seinen Asyl-Plänen die EU-Regeln zumindest herausfordern dürfte. Ungeschoren kommt die Europäische Staatengemeinschaft in seiner Rede aber nicht davon: Die EU habe zu viel im Kleinen reguliert, inklusive Drehverschluss an der Plastikflasche, Stichwort Bürokratie-Monster. Gleichzeitig mache sie im Großen – in der Handels- und Außenpolitik – zu wenig.
AKW, Heizungen, Verbrennermotoren – zu viel ausgestiegen
Viel Zustimmung erntet er für seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Deutschland müsse Industrieland bleiben – „sonst können wir unseren Wohlstand nicht halten“. Der Ausstieg aus der Atomkraft, die Abschaltung der verbliebenen drei Atomkraftwerke durch die Ampel sei ein Fehler gewesen – „auf so eine Schnapsidee ist auf der Welt sonst niemand gekommen“.
Über einen Wiedereinstieg sagt Merz nichts. In einem Positionspapier hat die Union im vergangenen Jahr geschrieben, dass man diesen prüfen wolle, man setzt auf Mini-Atomkraftwerke, die es allerdings noch nicht gibt.
Arbeiten die Deutschen zu wenig?
Dasselbe Muster wie beim AKW-Aus erkennt Merz beim Verbrenner-Aus und dem Heizungsgesetz – beides will die CDU rückgängig machen. Merz: „Wir sind in diesem Land zu viel ausgestiegen, ohne zu wissen, wo wir einsteigen.“ Die größten wirtschaftlichen Sünden, das wird klar, kreidet er den Grünen an. Aber auch bei der Mentalität der Bevölkerung sieht er Probleme: „Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand unseres Landes nicht erhalten“, sagt der 69-Jährige und erntet Applaus.
Merz‘ wirtschaftliche Bestandsaufnahme nach nur drei Jahren Ampel lautet: 300.000 Arbeitsplätze in der Industrie verloren und ein noch nie dagewesener Kapitalabfluss, laut IWF gibt es in keinem anderen Industrieland weniger Wachstum. Im Hochsteuerland Deutschland seien Unternehmen mit über 30 Prozent Steuern höher belastet als fast überall sonst auf der Welt.
„Da stimmt etwas nicht mehr“
Dazu drei Millionen Arbeitslose, 700.000 offene Stellen, fünf Millionen Menschen im Bürgergeld. Merz‘ Fazit: „Da stimmt etwas nicht mehr.“ Homeoffice sei in der Pandemie eine gute Sache gewesen, aber jetzt? „Arbeit ist nicht nur eine unangenehme Unterbrechung unserer Freizeit“, sagt der ehemalige Blackrock-Manager. Fleiß und Respekt vor Leistung sind die Stichworte, die die CDU dem Zeitgeist entgegensetzt.
Mehr Arbeiten soll aber nicht bedeuten, zwanghaft länger zu arbeiten, von der generellen Verschiebung des Renteneintrittsalters hat sich die CDU wieder verabschiedet. „Es wird beim Renteneintrittsalter von 67 bleiben“, versichert Merz dem Publikum. Nur Menschen, die länger arbeiten wollten, sollten dies tun. Das will man mit 2000 Euro Steuerfreibetrag im Monat fördern.
„Wir können es noch hinbekommen“
Merz will „die Bremsen lösen“: Digitalisierung soll mit einem eigenen Ministerium endlich Vorfahrt bekommen, der Datenschutz kleiner, Datennutzung und -sicherheit aber groß geschrieben werden. Strom soll günstiger werden. Und: „Wir wollen wieder zwei Prozent Wachstum.“ Seine Botschaft: „Wir haben den Anschluss noch nicht verloren, wir können es noch hinbekommen. Wir müssen es aber machen.“
Und dann kommt Merz doch noch auf die Ereignisse im Bundestag vor einer Woche zu sprechen. Die hatten in Konstanz zum Beispiel dazu geführt, dass vor den Büros der Bundestagsabgeordneten Andreas Jung (CDU) und Ann-Veruschka Jurisch (FDP) eine Mahnwache abgehalten wurde. Deutschlandweit gingen seither Hunderttausende aus Protest auf die Straße.
„Jetzt mal ein bisschen runter mit der Temperatur“
Merz, das wird klar, lässt sich dadurch nicht aus dem Konzept bringen. „Ich fand, das war eine Klärung, wo welche Partei zum Thema Migration steht“, sagt er über die Woche. Und verlangt eine nüchternere Debatte: „Jetzt mal ein bisschen runter mit der Temperatur.“
Er wolle die Grenzen nicht schließen, aber Deutschland müsse die Binnengrenzen kontrollieren, solange die EU-Außengrenzen nicht geschützt würden. „Wenn wir das nicht hinbekommen, wird die AfD immer stärker.“ Mit den Sozialdemokraten will er reden, denn inhaltlich sieht er keine Unterschiede. „Bei den Grünen bin ich kurz davor, die Hoffnung aufzugeben.“
Deutliche Absage an die AfD
Merz blinkt eindeutig rot in Singen, die Koalitionsoption mit den Grünen will er aber noch nicht ganz aufgeben. Eine klare Absage gibt es dagegen an die Adresse der AfD: „Ich kann Ihnen sagen, ich persönlich und meine Partei werden mit dieser Partei nicht zusammenarbeiten, unter keinen Umständen“, sagt er mit Nachdruck. Was die AfD wolle – raus aus Nato, raus aus Euro, raus aus EU – würde die Seele der CDU verkaufen. „Wenn man dieses Land kaputt machen will, moralisch und wirtschaftlich, dann muss man mit dieser Partei zusammenarbeiten.“
Damit trifft er den Nerv der allermeisten im Saal, es gibt lauten Applaus. Zumindest einer sieht das aber anders und hat das Anfang des Jahres auch öffentlich gemacht: Frank Hämmerle, der ehemalige Konstanzer Landrat, sitzt auch im Publikum. Er würde die AfD als Koalitionsoption nicht ausschließen. Es sei immer gut, wenn man beim Verkaufen mehr Optionen hat, sagt er dem SÜDKURIER. Ganz allein steht er mit dieser Meinung wohl nicht, er habe 50 Mails und viele zustimmende Anrufe bekommen. Aber auch zwei negative Reaktionen, die ihn getroffen hätten.
Andreas Jung macht sich für Vielfalt stark
Eine davon dürfte von Andreas Jung stammen, der in der Stadthalle migrationsfreundliche Töne anschlägt: Singen sei großartige Stadt, auch wegen der Menschen aus vielen Ländern, die hierhergekommen seien wegen der Arbeit. „Ohne sie würde unsere Region stillstehen.“ Er sagt auch: „Wir leben Vielfalt – das alles lassen wir uns nicht von Radikalen und Rechtsextremisten kaputt machen.“

Die zurückliegende Woche bezeichnete der liberale CDU-Mann kürzlich als die schwerste Sitzungswoche seines politischen Lebens. Für seine Ja-Stimmen im Bundestag muss er sich daheim viel Kritik gefallen lassen. Ruth Frenk, Vorsitzende der Deutsch-israelischen Gesellschaft am Bodensee, ist extra aus diesem Grund zur CDU-Veranstaltung gekommen, um Jung beizustehen. „Ich mag ihn und ich vertraue ihm“, sagt sie dem SÜDKURIER.
Graf Zeppelin als Vorbild
Gegen 20.30 Uhr kommt Merz allmählich zum Schluss – ohne Notizen und ohne ein Äh hat er gesprochen und den Nerv des Publikums getroffen. Mehr Lacher allerdings erntet Manuel Hagel zum Abschluss. Diesmal müssten wirklich drei Jahre Opposition für die CDU reichen, spornt er Merz an.

Und macht dem Saal mit einem historischen Beispiel aus der Region Mut: Wenn es Graf Zeppelin (der für seine hochfliegenden Pläne lange verspottet wurde) geschafft habe, dass Schiffe fliegen – „dann schaffen wir es mit Friedrich Merz auch, Deutschland wieder flott zu kriegen.“