Einen Plan gibt es nicht. Die Geschichte von Larissa und David Bücheler gleicht eher einem Märchen. 15 Jahre alt sind sie, besuchen die gleiche Schule, verlieben sich und bleiben zusammen. Gemeinsam machen sie den Schulabschluss, den Führerschein. Parallel verlaufen Studium und Start ins Berufsleben, es folgen Familiengründung, Hochzeit – alles läuft glatt. Es findet sich nichts Spektakuläres, warum auch? Das Leben ist wie es ist und für die beiden ist es gut so.

„Typische Wadenwickel-Dinkelkeks-Globuli-Mami“

Zum Glück gehört Lia, geboren am 11. Januar 2018. Im Rückblick sieht sich die heute 29-jährige Larissa als eine dieser „typischen Wadenwickel-Dinkelkeks-Globuli-Mamis“ – und an dieser Welt hält sie zunächst fest. Das Baby schreit, aber so ist das eben und schließlich wäre Lia nicht das erste Schreikind. Es stößt Milch auf, doch das wird sich gewiss legen. Im vierten Monat verschluckt Lia sich schwer, der Wonneproppen kämpft, läuft blau an, hustet Schleim und es ist vermutlich das erste Mal, dass sich die längst in Angst übergegangene Sorge zur Panik wandelt. Larissa und David Bücheler erinnern sich: Der Krampf des Kindes dauert eine halbe Stunde.

Es ist zugleich die Stunde, ab der sich das Paar nichts mehr vormachen kann und will. Noch aber überwiegt die Hoffnung, wenn die Ärzte beschwichtigen. Empfohlen wird Linderung mittels Kamillentee und die Anzeichen einer verzögerten Entwicklung solle man nicht überbewerten. Lia kommt zur Physiotherapie, Ärzte untersuchen sie, finden nichts, aber für David Bücheler steht inzwischen fest, dass mit dem Kind etwas nicht stimmt. Als Lia ein Jahr alt ist, fühlt er sich bestätigt: Lia bekommt einen epileptischen Anfall.

Niederschmetternde Diagnose

Ein letztes Mal obsiegt die Hoffnung, dass alles gut wird. Das Paar erwartet das zweite Kind und im Sommer 2019 nutzen Larissa und David Bücheler die Chance zu Flitterwochen. Nach der Rückkehr verschlimmert sich der Zustand von Lia auf erschreckende Weise und schrecklicher nur ist das Ergebnis einer Gen-Analyse. Lia leidet unter einer Mutation des FOXG1-Gens: Die Symptome sind vielfältig, reichen von Epilepsie bis zu Reflex-, Seh-, Schlaf-, Schluck- und allgemeinen Entwicklungsstörungen, sind verbunden mit Schmerzen. Rund 700 solcher Fälle sind weltweit bekannt, die Lebenserwartung ist gering.

Für David Bücheler vollzieht sich eine Wandlung – ähnlich wie bei Larissa und ihrer Selbstwahrnehmung als frühere Wadenwickel-Dinkelkeks-Globuli-Mami. Für ihn gibt es ein Leben vor und nach dem Wissen über Lias Behinderung und den Unterschied beschreibt er in einem Satz: „Früher hätte ich gesagt, dass ich nie mit einem behinderten Kind umgehen kann – jetzt weiß ich es besser.“ Niemand sei für so eine Aufgabe geboren, da ist er sich sicher, aber man wachse hinein. „Es ist ein bisschen so wie bei Corona“, erläutert er. Am Anfang der Pandemie habe sich auch kaum jemand vorstellen können, wie schnell sich die Menschen an die neue Situation anpassen, und schon kurze Zeit später werde vieles als normal empfunden.

Hilfe aber braucht‘s und die bekommt das Paar. Beide Großelternpaare springen bei der Betreuung ein, vor drei Monaten zieht die inzwischen vierköpfige Familie aus ihrer 55 Quadratmeter großen Wohnung ins Haus von Davids Eltern in Kaltbrunn, die Arbeitskollegen halten ihm den Rücken frei und Larissa Bücheler schätzt die hierzulande bestehende Infrastruktur. Da ist zum Beispiel die Freude über einen Kindergartenplatz in Kaltbrunn und die Fortschritte der Gesellschaft bei der Inklusion. „Es wird an allen Ecken und Enden versucht zu helfen“, sagt sie. Selbst Jano, der kleine Bruder von Lia, scheint ein Gespür für die Hilfsbedürftigkeit der Schwester zu entwickeln. „Lia kann sich bei ihm einiges erlauben“, sagt David Bücheler.

Achterbahnfahrt der Gefühle

Also wirklich ein Märchen? Oder zeigt sich doch einfach nur, was den Mensch zum Menschen macht, wenn er sich denn nur darum bemüht? Da ist David, ganz der Typ Teddybär zum Anlehnen; und Larissa, eine nachdenkliche Frau, die bereitwillig und offen über Fragen zur pränatalen Diagnostik und ihre Optionen spricht. Dann wieder wägt er nüchtern seinen Wunsch nach einem weiteren Kind ab und sie räumt die Achterbahnfahrt in der Beziehung ein, wenn beide Eltern bei einem Anfall von Lia wieder einmal erbarmungslos ihrer Hilflosigkeit ausgesetzt sind. Wechselseitig ergänzen sich Herz und Verstand.

Ganz normal sei das, sagen Larissa und David Bücheler, auch wenn sie im Alltag immer wieder Reaktionen verstörter Mitmenschen erleben. Gewiss sei die Familiensituation extrem, erläutert der Vater, aber seitdem er durch die eigene Erfahrung sensibilisiert wurde, bemerke er im Alltag die hohe Zahl behinderter Menschen. „Das ist wie wenn man den Führerschein macht“, erläutert er, „da sieht man dann nur noch überall Fahrschulautos.“

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Der Blickwinkel aber ändere nichts an der Menschlichkeit. „Wir sind mit Lia nicht glücklicher oder unglücklicher als andere“, sagt David Bücheler. Gewiss, man werde ehrfürchtig, sind sich die beiden einig, und in Augenblicken, in denen es Lia gut geht, sei da ein wunderschönes Gefühl – so wie es Momente des Horrors gebe, wenn das Kind wieder einen Anfall bekomme oder unter Schmerzen leide. Und auch Dankbarkeit werde anders und bewusster wahrgenommen. Die Bedeutung von Geschenken beispielsweise: Für das Paar ist das ein ruhiger Abend oder auch einfach mal die Möglichkeit zur ausgiebigen Dusche ohne Aufsichtspflicht.

Auszeiten sind das, und sie ändern nichts daran, dass der Alltag nicht planbar ist. Dass Larissa Bücheler zum Beispiel nach der Elternzeit wieder als Lehrerin arbeiten kann, glaubt sie nicht. Aber es gibt ja auch keinen Plan und an Märchen glauben Larissa und David Bücheler ohnehin nicht. Stattdessen setzen sie sich für ein Projekt zur Erforschung des Gendefekts ein, unter dem Lia leidet. Denn was es gibt, ist das Leben mit allen Zweifeln, aller Zuversicht. Für Larissa und David Bücheler ist es gut so.