Die Frau, die den Schwurgerichtssaal im Konstanzer Landgericht betritt, als gehöre er ihr, ist makellos gekleidet. Ihr Hosenanzug sitzt wie maßgeschneidert, in ihren hochhakigen, schwarzen Pumps spiegelt sich das trübe Lampenlicht. Ihr Rücken ist gerade, ihr Kopf erhoben, ganz anders als man es von einem Menschen erwartet, der mit Fußfesseln aus der streng bewachten Kammer für Häftlinge in einen Gerichtssaal eingelassen wird.
Ihre Sicht der Dinge hat sie exklusiv
Sie hat ja auch keinen Grund, demütig oder schuldbewusst zu sein, glaubt sie. Dass sie überhaupt in Haft sitzt, ist ein großes Missverständnis, mindestens, wenn nicht eine Verschwörung. Denn Sie, Silke P., ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau und Wissenschaftlerin, die sich vollkommen zu Recht in dutzenden Luxushotels in der Schweiz und Deutschland – unter anderem dem Zeppelin und dem Steigenberger in Konstanz – eingemietet hat.
Dass die über 20.000 Euro für die wochenlangen Aufenthalte nicht bezahlt wurden, von ihrer Uni oder ihrer Firma, was kann sie dafür? In einigen Bleiben war sie außerdem nie. All das ist ihre Sicht der Dinge, die sie exklusiv hat.
Die Staatsanwaltschaft Konstanz hingegen hält sie für eine Hochstaplerin. Als sie im Juni 2020 aufgrund von Zahlungsunwillen im schicken Steigenberger Inselhotels festgenommen wurde, endete ihr Luxus-Leben. Denn nach der Verhaftung stellte sich heraus, dass sie in sieben Städten, unter anderem Zürich, Augsburg und München, wegen dem Prellen von Hotels gesucht wurde. „Wir haben all das zusammen gefasst und verhandeln es hier in Konstanz“, erklärt Staatsanwalt Simon Pschorr.
Ist sie eine Hochstaplerin oder psychisch krank?
Vor der Verhandlung trägt sie einen Stapel Unterlagen zu ihrem Platz auf der Anklagebank. Die Akten türmen sich höher als die ihres Anwalts links neben ihr, höher als die der zwei Schöffinnen und höher als die des Staatsanwalts. Nur Richterin Regina Weinacht, die mit einem Blick, dem nichts entgeht, über ihrer Lesebrille den Saal scannt, hat noch mehr Unterlagen dabei.
Silke P. hat viel zu sagen an diesem Prozesstag, an dem das Urteil fallen soll. Geladen ist ein psychologischer Gutachter, Bernd Borchard. Er soll sagen, ob Frau P. zum Zeitpunkt der Straftaten schuldfähig war – und ob sie besser in einer psychiatrischen statt in einer Haftanstalt aufgehoben wäre. Ist sie eine Hochstaplerin oder ist sie psychisch krank? Die Antwort darauf wird das Urteil maßgeblich bestimmen.
Später, nach fünf Stunden Verhandlung, von denen Silke P. etwa drei gesprochen haben wird, wird der Gutachter sagen: „Sie macht sich die Welt, wie sie ihr gefällt.“
Das Problem ist: Die Angeklagte ist nicht nur nicht einsichtig. Sie scheint der Überzeugung, dass sie hereingelegt wurde. Dass sie Geld hat, einen Wohnsitz, eine funktionierende Karriere. Dass sie in den Hotels jederzeit hätte zahlen können.
Die Wahrheit ist laut Staatsanwaltschaft: Sie hat Schulden, keinen Job und erst einen festen Wohnsitz, seit sie in der Justizvollzuganstalt Schwäbisch-Gmünd in Haft sitzt.
Frau P. ist nicht zum ersten mal vor Gericht
Ihre Firma, für die sie in Deutschland und der Schweiz unterwegs gewesen sein will, ist zwar im Handelsregister eingetragen, doch an der Postadresse gibt es laut keine Räumlichkeiten. Nie sei auch nur ein Cent über das Unternehmen abgewickelt worden. Ebenso wenig scheinen Belege für eine wissenschaftliche Karriere als angehende Professorin zu existieren – bis auf Einträge in Online-Netzwerken, die die Angeklagte selbst erstellt hat. Teilweise ist sie mehrfach in ein und demselben Netzwerk gemeldet: Als angehende Professorin in St. Gallen, als Mitarbeiterin der Princeton University.
Auch der psychologische Gutachter konnte nichts finden – und zweifelt sogar den Doktortitel, den sie 2006 gemacht haben will, an. Dabei galt der doch in allen Gerichtsverhandlungen, an denen sie bisher als Angeklagte teilnahm – und das waren viele – als gesetzt. Frau P. ist verurteilt wegen übler Nachrede, wegen Beleidigung – besonders gerne beleidigt sie Menschen mit muslimischem Hintergrund – wegen Urkundenfälschung und wegen Hausfriedensbruch. Ihre Geldstrafen zahlte sie nie und wurde deshalb in der Schweiz und Deutschland gesucht.
Angefangen muss all das 2014 haben, erklärt der Gutachter. „Irgendetwas muss passiert sein, irgendetwas, was mit Kontrollverlust einhergeht, es gab einen Bruch in ihrem Leben“, meint er. Möglicherweise habe jemand von ihr abgeschrieben oder sie sei Plagiatsvorwürfen ausgesetzt gewesen. Bis dahin hatte sie nämlich eine Wohnung, einen Mann und eine akademische Laufbahn.
Was ist mit ihr passiert?
Beobachtet man sie vor Gericht, kann man nachvollziehen, warum die Hotelangestellten auf ihre Ausreden hereingefallen sind. Einer hat über sie gesagt: „Sie wirkt wie eine beschäftigte Karrierefrau.“ Erst, wenn man ihr eine Weile zuhört, merkt man, dass etwas nicht stimmt. Sie wiederholt sich, antwortet nicht auf Fragen, weicht aus. In den Hotels sei sie nie gewesen, die Angestellten hätten ihre Unterschrift auf den Meldescheinen gefälscht. Zu Sitzungsbeginn trägt sie über 90 Minuten lang Beweisanträge vor, die keine sind. „35 Zs 502/21, 33 Zs 480/21, 36 Zs 504/21“ liest sie Aktenzeichen vor, immer wieder unterbrochen von Richterin Weinacht. Es sind an die hundert.
Weinacht: „Wir brauchen die Aktenzeichen nicht!“ Silke P.: „Die Vorlesung der Aktenzeichen ist notwendig.“ Weinacht: „Nein, Sie können den Beweisantrag schriftlich einreichen!“ P.: „Ich habe nicht die Aktenzeichen vorgelegt. Die sind relevant. Ich habe einen Anspruch darauf.“ Weinacht winkt ab: „Dann lesen Sie Ihre Aktenzeichen weiter vor.“
Silke P. fordert, dass der stellvertretende Ministerpräsident Thomas Strobl (CDU) als Zeuge geladen wird – unter anderem. Sie referiert über das deutsche Rechtssystem, bis die Richterin ihr nach mehreren Mahnungen das Mikrofon abschaltet.
Ihre Stimme ist laut und schrill
„Hören wir nun den Sachverständigen“, sagt Richterin Regina Weinacht. „Ich wurde nicht vernommen“, entgegnet Silke P.. „Sie hatten Gelegenheit“, erläutert Weinacht ruhig. „Nein“, die Stimme der Angeklagten ist laut und schrill, „Nein, sie haben mir das Mikrofon ausgeschaltet.“
Als der Gutachter endlich zu Wort kommt, attestiert er Silke P. eine schwere paranoide querulatorische Persönlichkeitsstörung. Er sagt: „Solche Störungen können sich nach traumatischen Ereignissen ausbilden.“ Frau P. führe seit 2014 ein „Als-ob-Leben“. Ihr Ziel sei, nicht mit der unangenehmen Realität konfrontiert zu werden. Während er spricht, blättert die Angeklagte ihre Akten durch, die Haut auf ihrer Stirn in Zornesfalten gelegt. Die Störung, sagt er, habe dramatische Auswirkungen. „Die Betroffenen kommen mit den normalen Anforderungen des Lebens nicht mehr klar.“ Er blickt in Richtung Angeklagte: „Ohne, dass man es ihr ansehen würde.“
Beleidigungen wie kleine „Mini-Explosionen“
Sie sei misstrauisch und ständig angespannt, was auch die Anklagen wegen Beleidigung erkläre. „Das waren kleine Mini-Explosionen.“ Konfrontiere man sie doch mit der Realität, werde sie aggressiv oder weiche aus. Dann werde zum Beispiel darüber gesprochen, ob man für ein bestimmtes Hotel überhaupt einen so hohen Preis hätte verlangen dürfen. Er wendet sich jetzt an Richterin, Schöffinnen, Staatsanwalt: „Sie stiftet Verwirrung. Und ich finde, das ist ihr gelungen. Wir haben kein einziges Mal in Ruhe darüber gesprochen, warum sie sich in ein Hotel eingemietet und nicht gezahlt hat.“ Insgesamt verschlechtere das Verfahren ihre Störung, weil es sie mit der Realität konfrontiert.
Relevant für das Urteil ist nun, ob Frau P. zum Zeitpunkt der Tat einsichtsfähig war. „Ja, sie wusste, dass sie keine funktionierende Firma hat – und nicht mehr in Tübingen lebt“, sagt der Gutachter erst. Später aber ergänzt er: „Sie ist voll in ihrer Geschichte. Das ist das Drama dieser Störung: Sie glaubt sich selbst.“
Das Urteil? Wird verschoben. Denn der Gutachter muss los. Und Frau P. hat noch Fragen.