Herr Burchardt, Herr Niederberger, am 15. März wurden die Grenzen zwischen Deutschland und der Schweiz geschlossen. Haben Sie an diesem Morgen gedacht, dass am selben Abend hier an der Kunstgrenze auf Klein Venedig ein Bauzaun die beiden Städte trennt?

Uli Burchardt: Nein, hätte ich nicht gedacht und habe auch das Gegenteil gehofft. Deshalb hatte ich im Vorfeld an verschiedenen Stellen darum gebeten, keine Grenzanlagen zu errichten. Wenn diese einmal da sind, dauert es meiner Erfahrung nach lange, bis sie wieder weg sind. Und so kam es dann ja leider auch. Aber ganz offen: Speziell an die Kunstgrenze und ihre Symbolik hatte ich in dem Moment nicht gedacht.

Uli Burchardt, Thomas Niederberger und Benjamin Brumm im Gespräch an der Kunstgrenze Video: Lukas Ondreka

Thomas Niederberger: Schon die Grenzschließung war ein Schock, mit der späteren Errichtung der Zäune – erst von deutscher und später von Schweizer Seite aus – war völlig surreal.

Uli Burchardt, Oberbürgermeister der Stadt Konstanz.
Uli Burchardt, Oberbürgermeister der Stadt Konstanz. | Bild: Lukas Ondreka

Burchardt: Ich erinnere mich noch, wie Thomas Niederberger und ich uns durch den Zaun mit den Füßen begrüßt haben...

Durch die Schließung mussten sehr viele Details des üblichen Grenzverkehrs neu geregelt werden. Angefangen von der Situation für Landwirte und Kleingärtnern im Tägermoos über die wirtschaftliche Bedrohung für den Konstanzer Einzelhandel bis zu sehr emotionalen Trennungsgeschichten. Was beschäftigte Sie am meisten?

Burchardt: Tatsächlich die emotionalen Themen. Sie haben mich am meisten beeindruckt und auch beschäftigt. Da ging es ja zum Beispiel darum, dass ein deutscher Vater aus Konstanz nicht zur Geburt seiner Tochter hätte dürfen, weil seine Schweizer Frau in Münsterlingen entband.

Thomas Niederberger, Stadtpräsident von Kreuzlingen.
Thomas Niederberger, Stadtpräsident von Kreuzlingen. | Bild: Lukas Ondreka

Niederberger: Das ging mir genauso. Es war über Wochen eine sehr intensive Zeit. Wenn ich mich mit anderen Stadtpräsidenten unterhalten habe, dann waren die vom Thema Grenzschließung praktisch nicht oder kaum betroffen. Ich habe mich dagegen über Wochen hinweg bis zu 80 Prozent meiner Arbeitszeit mit den betroffenen Menschen und ihren Problemen auseinandergesetzt. Bis eben zu dem Fall dieses jungen Konstanzers, von dem Uli Burchardt gerade sprach.

Durfte er denn letztlich zur Geburt?

Niederberger: Schlussendlich habe ich über den Regierungsrat eine Ausnahmegenehmigung erwirken können, damit er dabei sein durfte.

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Burchardt: Tatsache ist: Ich habe in meiner Amtszeit noch nie so viele Zuschriften zu einem Thema bekommen wie zu dieser Grenzschließung – inklusive teils dramatischer Hilferufe.

Die letztlich zu einem großen medialen Interesse weit über Konstanz hinaus führten.

Burchardt: Und das wiederum mündete darin, dass sich Menschen aus ganz Deutschland, die einen Bezug zur Schweiz hatten, an uns wandten.

Niederberger: Das kann ich andersherum nur bestätigen. Die Menschen in der Schweiz waren mehr als irritiert, dass die Grenze nach Konstanz jetzt einfach zu sein soll – ohne Klarheit zu haben, wie lange das jetzt so bleibt.

Bild 3: Doppelinterview mit den Stadtoberhäuptern von Konstanz und Kreuzlingen: „Es gibt immer Menschen, die Grenzen lieber geschlossen als geöffnet hätten“
Bild: Lukas Ondreka

Das Verhältnis zwischen Konstanz und Kreuzlingen beziehungsweise der ganzen Schweiz ist nicht erst seit diesen besonderen drei Monaten von Emotionen geprägt. Glauben Sie, dass sich das teils von Animositäten geprägte Verhältnis ändert, weil man nun weiß, wie es ohne einander ist?

Niederberger: Ich glaube das ganz fest. Vor der Corona-Krise haben wir den Status quo als Normalzustand erlebt, mit all seinen Nach- und vor allem Vorteilen. Jetzt haben wir gesehen, wie nah die Menschen einander und dass unsere beiden Städte ein gemeinsamer Lebensraum sind. Ich bin überzeugt: Wir werden das künftig mehr zu schätzen wissen.

Burchardt: Es gibt – und das gilt wahrscheinlich für alle Grenzen – immer Menschen, die sie lieber geschlossen als geöffnet hätten.

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...was auch nur wenige Wochen nach der Öffnung wieder in Konstanz zu hören ist...

Burchardt: Das kennen wir aber doch auch aus den USA im Verhältnis zu Mexiko oder den Querelen um den Brexit. Zwischen Konstanz und Kreuzlingen werden Geld und Waren bewegt, bewegen sich auch Arbeitskräfte. Beidseits der Grenze kommt dann die Frage auf: Wer profitiert eigentlich mehr von diesem Zusammenleben? Dahinter steht aber die Frage: Sind offene Grenzen und Gesellschaften besser und stärker? Für mich ist klar: Ja.

Bild 4: Doppelinterview mit den Stadtoberhäuptern von Konstanz und Kreuzlingen: „Es gibt immer Menschen, die Grenzen lieber geschlossen als geöffnet hätten“
Bild: Lukas Ondreka

Hat es Sie überrascht, dass während der drei Monaten Trennung etliche Konstanzer sagten: ‚Wie schön, endlich haben wir die Stadt wieder für uns.‘

Niederberger: Ich kann auch Sicht der Konstanzer nachvollziehen, dass diese Ruhe erst einmal geschätzt wurde. Aber ich kann mir auch ausmalen, dass etliche Betriebe unter dieser Trennung gelitten haben. Es gab also auch viele Stimmen, die eine schnelle Öffnung befürwortet haben.

Wie war das denn bei Ihnen, für Kreuzlinger Händler muss die Rückkehr der einheimischen Kunden doch ein Segen gewesen sein?

Niederberger: Das wurde mir berichtet, ja. Es wäre noch zu früh zu sagen, ob es nach der Öffnung beim Zulauf für die Schweizer Detaillisten bleibt. Uns wäre ohnehin daran gelegen, dass – gerade im kleinen Grenzverkehr – alle dieselben Rechte haben. Angefangen von der Regelung der Freigrenzen bis zur Rückerstattung der Mehrwertsteuer. Der für Schweizer derzeit profitable Wechselkurs würde natürlich weiterhin bestehen.

Uli Burchardt, Thomas Niederberger und Benjamin Brumm im Gespräch an der Kunstgrenze Video: Lukas Ondreka

Burchardt: Ich kann gut verstehen, dass man etwas, das für viele gebaut wurde, lieber für sich allein genießen kann. Die Wahrheit ist aber: Ein solch idyllisches Konstanz würde es auf Dauer mit halb so vielen Menschen nicht geben, es würde vieles kaputt gehen. Und auch viele der rund 10.000 Arbeitsplätze in Handel und Tourismus würden verloren gehen.

Bild 5: Doppelinterview mit den Stadtoberhäuptern von Konstanz und Kreuzlingen: „Es gibt immer Menschen, die Grenzen lieber geschlossen als geöffnet hätten“
Bild: Lukas Ondreka

Eine Maßnahme, um nicht sämtlichen Konsum in Richtung der globalen Online-Versandhändler zu verlieren, war eine schnelle Umsetzung lokalen Online-Handels. Hat das Zukunft?

Burchardt: Künftig werden die allermeisten Offline-Händler online sein müssen. Durch Corona wurde schnell ein System auf die Beine gestellt und Netzwerke gebildet, samt Lieferketten per Fahrradkurieren. Natürlich hoffe ich, dass mindestens ein Teil davon bleibt. Es ist wichtig, dass der Einzelhandel sich weiterentwickelt

Ein Teil bleibt auch vom Zaun an der Kunstgrenze, der ins Museum nach Stuttgart wandert. War es rückblickend richtig, die sichtbaren Barrieren fast einen Monat früher zu entfernen, bevor die Grenze auch rechtlich wieder offen war? Denn damit nahm ja auch der faktisch illegale Grenzverkehr zu.

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Burchardt: Ich bin kein Virologe. Wir haben nur darauf gedrängt, dieses Symbol wegzuschaffen, vor dem Menschenmengen stehen und sich an Nordkorea oder die frühere DDR erinnert fühlten. Ja, die Situation war dadurch einen Monat lang etwas schräg, aber ich fand das okay.

Werden wir unseren Kindern und Enkeln vom Jahr 2020 so berichten, wie Vorgenerationen über 1989 oder gar 1945 sprechen?

Niederberger: Die Zeit wird sicher in spezieller Erinnerung bleiben. Aber ich wehre mich dagegen, Corona als historisches Ereignis zu bezeichnen. Für mich war es ein historisches Ereignis, als wir 2007 einen Grenzzaun abgerissen haben, der 1938 aufgestellt wurde.

Burchardt: Corona wird in unser aller Lebensläufe seine Spuren hinterlassen. Von einigen, weil sie beruflich vor völlig neuen Herausforderungen standen oder in Kurzarbeit mussten. Andere waren gesundheitlich betroffen und wiederum andere schrieben ein Corona-Abi. Es war also sicher ein besonderes Jahr – aber wir wissen ja auch noch gar nicht, wie lange uns Corona noch beschäftigen wird. Vorbei ist diese Krise jedenfalls nicht.